Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kloster der Ketzer

Das Kloster der Ketzer

Titel: Das Kloster der Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M Schroeder
Vom Netzwerk:
Mutter haben sich sehr geliebt, Sebastian«,
fuhr er schließlich fort. »Der Schmerz und der Kummer über den Verlust seiner geliebten Frau, mit der er kaum zwei Jahre verheiratet gewesen war, stürzten deinen Vater, zerrissen von heftigen Selbstvorwürfen, in tiefe Trübsal. Um seine Schuld zu büßen, beschloss er, seine Stellung als studierter Theologe und Kirchenjurist aufzugeben und als Wandermönch das Evangelium zu predigen. Er verkaufte sein Haus, verteilte ein Großteil seines Geldes unter die Armen, gab dich in die Obhut seiner Schwägerin und seines Schwagers, denen er auch den Rest seines Vermögens, das sie für dich verwalten sollten, anvertraute. Denn außer seinem älteren Bruder Tassilo, der damals noch nicht die mächtige Stellung eines Passauer Domherrn inne hatte, hatte er keine weiteren Familienangehörigen mehr. Und wie das Schicksal es wollte, gelangte er auf seinen rastlosen Wanderungen eines Tages auch nach Wittenberg, und zwar genau zu jener Zeit, als Martin Luther seine ersten aufrüttelnden reformatorischen Schriften verfasst hatte, also in den letzten Wochen des Jahres 1517. Sofort wurde er einer seiner glühendsten Anhänger und besuchte jede Vorlesung, die Luther in der Universität von Wittenberg hielt. Dort lernten wir uns kennen. Denn zur gleichen Zeit hatten mich meine Klosteroberen dorthin geschickt, damit ich nach meinem Theologiestudium auch noch den Doktorgrad erwarb.«
    »Ihr habt also zusammen mit meinem Vater Luther predigen gehört?«, fragte Sebastian verblüfft.
    Der Mönch lächelte. »Ja, im Vorlesungssaal und von der Kirchenkanzel der mittlerweile berühmten Schlosskirche. Es war eine ungeheuer aufregende Zeit. Wir alle glaubten damals noch, dass endlich ein frischer Wind unsere heilige Mutter Kirche durchwehen und die große Wende der Reformation einleiten würde, die vor Luther doch schon so viele andere angesehene Theologen angemahnt hatten. Und keiner konnte
auch nur im Traum ahnen, dass es anstelle der dringend notwendigen Erneuerung zu einer unseligen Kirchenspaltung kommen würde. Doch je mutiger Luther in seinen Forderungen und leider auch in so manchen Ausfällen gegen den Papst und die Kirchenfürsten wurde und je vehementer Rom ihn als Ketzer verdammte und ihn auf dem Scheiterhaufen brennen sehen wollte, desto unüberwindlicher wurden die Positionen, die anfangs doch gar nicht so weit auseinander lagen, wie es heute den Anschein hat. Mit ein wenig Vernunft und dem demütigen Eingeständnis eigener Unzulänglichkeiten und verurteilungswürdiger kirchlicher Missstände auf der Seite Roms hätte der Streit ein gutes und für die Christenheit segensreiches Ende nehmen können. Tragischerweise war unserem Papst Leo X. und der Kurie, korrumpiert von vielfältigen weltlichen Gelüsten, der reine Machterhalt jedoch wichtiger als die unmissverständliche Botschaft des Evangeliums und die Einheit der Kirche. Und das gilt leider auch für unseren jetzigen Papst Clemens VII. Und so nahmen die Dinge ihren unseligen Lauf. Ach, wäre dem frommen Papst Hadrian VI. aus den Niederlanden damals doch ein langes Leben und vor allem mehr Durchsetzungskraft beschert gewesen! Er begann den Reichstag zu Nürnberg 1522 doch wahrhaftig mit einem Schuldbekenntnis der Kirche! Er wollte wirklich Ernst machen und wurde zu einer echten Gefahr für die Kurie und die Kirchenfürsten. Doch man stellte ihn kalt, machte ihn zu einem einsamen Mann, und dann ereilte ihn ein viel zu früher Tod. Was wäre geschehen, wenn Hadrian schon zu Beginn von Luthers Kampf gegen die kirchlichen Missstände Papst gewesen wäre, mehr Einfluss auf die Kurie gehabt hätte und heute noch immer auf dem Stuhl Petri sitzen würde! Dann wäre alles anders gekommen.«
    Es folgte eine lange, gedankenschwere Pause, in der Bruder
Scriptoris wohl seinen Erinnerungen an seine Wittenberger Zeit nachhing und kummervoll an die kurze, bedeutungslose Amtszeit von Papst Hadrian dachte.
    »Übrigens bist du deinem Vater nie gleichgültig gewesen«, nahm der Mönch seine Erzählung schließlich wieder auf. »Er hat sich sogar mehrfach der nicht geringen Gefahr ausgesetzt, unter falscher Identität hierher zu reisen und dich auf Erlenhof zu besuchen, um dich wenigstens dann und wann einmal für einige Stunden wiederzusehen.«
    Sebastian furchte die Stirn, erinnerte er sich doch sofort an jenen merkwürdigen Gast seiner Zieheltern, der stets am späten Abend auf ihrem Landgut eintraf, sich angeblich auf der Durchreise befand und am

Weitere Kostenlose Bücher