Das Kloster der Ketzer
zurückzukehren. Das wäre in der Tat ein Triumph, der sich für die weitere Karriere des Domherrn gewiss auszahlen würde. Aber bislang ist ihm das offenbar noch nicht gelungen, vermutlich weil dein Vater sich standhaft weigert, sich von seinem Bruder für seine Machtspiele missbrauchen zu lassen.«
»Meint Ihr, Tassilo lässt…« Sebastian stockte kurz, weil er den entsetzlichen Gedanken kaum auszusprechen wagte. »... meinen Vater foltern, um ihn gefügig zu machen?«
Der Mönch ließ einige quälend lange Sekunden verstreichen, bevor er antwortete: »Das kann ich dir nicht mit Gewissheit sagen, aber ich vermute einmal, dass er vorerst davon abgesehen hat.«
Nur zu gern wollte Sebastian ihm glauben, doch die Zweifel ließen ihn nachfragen: »Und worauf gründet Ihre Eure Zuversicht?«
»Auf die kompromittierenden Briefe«, lautete die rätselhafte Antwort des Mönchs. »Und weil der Domherr nichts unversucht lässt, um Euch in seine Gewalt zu bringen. Denn mit dir als Faustpfand würde dein Vater seinen Widerstand zweifellos aufgeben.«
Sebastian furchte die Stirn. »Briefe?«, wiederholte er verständnislos. »Von welchen Briefen sprecht Ihr?«
»Ich rede von den drei Briefen aus Tassilos Feder, die sich im Versteck der ausgehöhlten Reisebibel befunden haben«, eröffnete ihm Bruder Scriptoris.
»Dann seid Ihr es also gewesen, der mir die Bibel entwendet und die Schlösser aufgebrochen hat, um an den geheimen Inhalt zu kommen!«, stieß Sebastian hervor.
»Ich tat nur, wozu mich der anonyme Briefschreiber zum Schutz deines Vaters aufgefordert hat«, sagte der Mönch. »Nämlich festzustellen, ob du die alte Reisebibel auf deiner Flucht vom Erlenhof mitgenommen und vielleicht mit ins Kloster gebracht hast – und wenn ja, unbedingt ihren Inhalt sicherzustellen.«
Sebastians Ingrimm verrauchte sofort wieder, und er wollte nun wissen, um was für Briefe es sich handelte.
»Dein Vater unterhielt in den ersten Jahren seiner Wanderschaft und auch noch zu Anfang in Wittenberg, also in der Zeit von Ende 1517 bis zum Frühsommer 1518, als Luther seine 95 Thesen und seinen erläuternden Sermon von dem Ablass und der Gnade veröffentlichte, einen lockeren Briefwechsel mit seinem Bruder, der zu jener Zeit noch ein recht unbedeutender Kleriker und überaus unzufrieden mit seinem stockenden Aufstieg in höhere Kirchenämter war«, berichtete Bruder Scriptoris. »Dein Vater berichtete ihm in diesen Monaten mit glühender Begeisterung von Luthers Predigten und reformatorischen Forderungen. Und Tassilo schrieb ihm in diesen Monaten drei längere Briefe zurück, in denen er nicht nur seinem Groll über seine persönliche Situation und die Unfähigkeit der mächtigen Passauer Kanoniker Luft machte, sondern er äußerte in seiner Unzufriedenheit auch lang und breit Sympathien für Luthers Angriffe gegen Rom und gegen die zahlreichen kirchlichen Missstände. Briefe, von denen er nun als Domherr wohl wünscht, er hätte sie nie geschrieben!«
»Sagt jetzt nicht, dass Ihr diese Briefe im Kloster zurückgelassen habt!«, stieß Sebastian aufgeregt hervor.
»Sei unbesorgt, ich trage sie bei mir, seit ich die Bibel in deiner Zelle gefunden und die Schreiben an mich genommen habe!«, beruhigte ihn der Mönch.
Sebastian fühlte große Erleichterung. »Aber mit diesen drei Briefen haben wir den Domherrn dann doch in der Hand! Wir können mit ihnen meinen Vater freipressen! Und vielleicht auch diesen Leonhard Kaiser!«
»Ja, darüber werden wir uns wohl ausgiebig Gedanken machen müssen«, sagte Bruder Scriptoris sehr zurückhaltend. »Obwohl ich bezweifle, dass wir bei Tassilo damit durchkommen. Er scheint von den Briefen zu wissen, und so wie ich ihn einschätze, wird er sich längst darauf eingestellt haben, wie er der Gefahr begegnen kann. Immerhin sind gute zehn Jahre vergangen, seit er sie seinem Bruder geschrieben hat, und ein Mensch verändert im Laufe der Zeit seine Handschrift. Er braucht bloß zu behaupten, sie seien von lutherischen Ketzern gefälscht, um ihn in Misskredit zu bringen. Jedenfalls dürfte es schwer fallen, ihm die Urheberschaft zweifelsfrei nachzuweisen. Und wem von uns würde man diese Möglichkeit überhaupt zubilligen? So ungern ich dir die Hoffnung nehme, aber ich glaube nicht daran, dass Tassilos Briefe der Schlüssel zur Freiheit für deinen Vater ist, geschweige denn für Leonhard Kaiser.«
Wie ein Strohfeuer fiel Sebastians Zuversicht in sich zusammen, und bedrückt blickte er auf den
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