Das Kloster der Ketzer
wiederkehrenden Gebetszeiten 15 . Schlaf war etwas, das in einem Kloster keinen hohen Stellenwert besaß.
Der Schlaf wollte sich jedoch einfach nicht einstellen. Die Sorgen und Ängste, aber auch die Frage, wann er wohl Lauretia wiedersehen würde, ließen ihm keine Ruhe. Rastlos drehte er sich von der einen Seite auf die andere. Aus dem Dachgebälk über ihm kamen Geräusche, ein merkwürdiges Rascheln und Zirpen. Wurden sie von Ratten oder von Fledermäusen verursacht? Unwillkürlich dachte er an die unheimlichen Geschichten, die ihm Martha, die überaus abergläubische Köchin auf Erlenhof , als kleines Kind über das angeblich wahre Wesen der Fledermäuse erzählt hatte. Demnach handelte es sich bei ihnen um Geisterwesen, Untote, um die verlorenen Seelen ungetaufter Verstorbener, die ohne den Segen der Kirche in ungeweihter Erde begraben worden waren. Gisa hatte diese schauerlichen Geschichten als Unfug und eines gläubigen Christen nicht für würdig bezeichnet, aber vergessen hatte er diese Geschichten dennoch nicht. Auch dass er ganz allein in der einstigen Kornmühle war, trug zu seiner Unruhe und seinem starken Unbehagen bei.
Plötzlich befiel Sebastian das Gefühl, in der Dunkelheit von
der niedrigen, rauchgeschwärzten Balkendecke erdrückt zu werden und keine Luft mehr zu bekommen. Eine Weile quälte er sich noch in dem erfolglosen Versuch, doch noch in den Schlaf zu finden. Dann hielt es ihn nicht länger auf seiner Bettstelle und in der Kammer. Das Verlangen, an die frische Nachtluft zu kommen und sich zu bewegen, war einfach zu übermächtig. Er warf die Decken zurück, stand auf, hängte sich seinen Umhang um, riss die Tür auf und eilte die steile Treppe hinunter.
Als er hinaus in die Nacht trat, fühlte er sich gleich um einiges besser. Das Gefühl der Beklemmung wich fast augenblicklich von seiner Brust. Nur wenige Wolken zogen über den Himmel, der sternenklar war. Der Mond schwebte wie eine silberne Sichel über der Klosterkirche.
Ziellos wanderte Sebastian über das weitläufige Gelände innerhalb der Klostermauern. Die Bewegung in der frischen Nachtluft tat ihm gut, und allmählich kehrte die Zuversicht zurück, dass alles doch noch ein gutes Ende nehmen würde. Was konnte ihm auch hier im Kloster Gefährliches widerfahren? An diesem Ort war er sicher, solange er seine Rolle als Anwärter auf den Novizenstand einigermaßen überzeugend spielte. Das Wissen, dass er sich der strengen Klosterzucht ja nur für kurze Zeit unterwerfen musste, würde dabei gewiss helfen. Zudem vertraute er darauf, dass Lauretia eine Möglichkeit finden würde, mit ihm Kontakt aufzunehmen, nicht nur wegen der Bibel, sondern damit sie sich wiedersehen konnten. Und wenn er sich nicht sehr täuschte, würde ihr die Sehnsucht nicht weniger zusetzen, als sie ihn quälte.
Seine Gedanken verweilten lange bei Lauretia, weil sie ihn nicht nur von allem ablenkten, was ihn bedrückte, sondern weil sie ihn mit einer inneren, bisher ungekannten Wärme und starken Verbundenheit erfüllten. Sie war der Lichtblick in dem
Dunkel der Geheimnisse, die sein Leben seit der Flucht vom Erlenhof beherrschten.
Gedankenversunken erklomm er den kleinen Hang zum Obstgarten und schritt durch die erste Reihe der blühenden Obstbäume, als sein Blick auf eine kleine Kapelle fiel. Sie stand etwas zurückversetzt in der Nähe der nördlichen Umfassungsmauer. Einer spontanen Eingebung folgend wandte er sich ihr zu. Er wollte die Muttergottes in einem stillen Gebet um Beistand in seiner gefahrvollen Situation bitten, und diese kleine Kapelle, wo er ganz mit sich und der seligen Jungfrau allein sein konnte, schien ihm dafür der rechte Ort zu sein.
Doch als er die nur angelehnte Tür öffnete und sein Blick in das Innere der Kapelle fiel, sah er im rötlichen Schein des ewigen Lichtes neben dem Marienaltar, dass dieser Ort der Anbetung trotz der nächtlichen Stunde nicht so verlassen war, wie er angenommen hatte. Und was sich seinen Augen darbot, ließ ihn überrascht neben der Tür stehen bleiben.
Eine Mönchsgestalt kniete vor den zwei Stufen, die zum Triptychon 16 des Altars mit dem Bildnis der Muttergottes hochführte. Der Mann hatte sich bis zu den Hüften entblößt. Rote Striemen bedeckten seinen nackten Rücken.
Es war der Novize Notker! Sebastian erkannte ihn sofort an seiner pummeligen Figur und dem stotternden Gemurmel, das er hervorstieß. Und dann bemerkte er auch die Geißel mit den knotigen Lederriemen in Notkers Hand. Im
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