Das Kloster der Ketzer
Vitus ist der gedrungene, kräftige Mann mit dem spitzkantigen Kinn und der sehr ausgeprägten, höckrigen Nase. Er hat eine leicht schleppende Stimme und stark behaarte Hände. Im Refektorium sitzt er immer links neben dem Abt«, sagte Notker, um dann wieder zu dem zurückzukehren, was ihn
beschäftigte. »Wie dem auch sei, ich beichte jedenfalls lieber bei Bruder Scriptoris als beim Prior, auch wenn unser Novizenmeister manchmal ein äußerst hitziges Temperament hat und urplötzlich aus der Haut fahren kann, als hätte ihn aus heiterem Himmel der Hafer gestochen. Also sei bloß gewarnt!«
Sebastian versicherte, sich seinen Ratschlag zu Herzen zu nehmen und alles zu unterlassen, was den Novizenmeister reizen könnte.
»Aber auch Bruder Sulpicius kann rasch seine scheinbare Sanftmut verlieren«, fuhr Notker redefreudig fort. »Obwohl ich nicht verhehlen will, dass das Leben bei uns im Kloster um einiges leichter geworden ist, seit der Prior die Geschäfte in Vertretung unseres kranken Abtes führt und zum großen Missfallen des Cellerars eine wachsende Anhängerschaft um sich schart, die bei der nächsten Abtswahl den Ausschlag zu seinen Gunsten geben kann. Große Strenge und strikte Befolgung der Regel liegen nämlich genauso wenig in seiner Natur wie große Geduld.«
Das überraschte Sebastian nicht, hatte der wohlgerundete Prior auf ihn doch den Eindruck eines sehr lebensfrohen Mannes gemacht, der den Freuden der Gaumenlust genauso wenig abgeneigt war wie der Novize.
Sie redeten noch eine ganze Weile in der Marienkapelle und Notker weihte ihn nur zu bereitwillig in die vielen kleinen Eigenarten seiner Mitbrüder ein. Dann wurde es aber allerhöchste Zeit, dem vertraulichen nächtlichen Gespräch ein Ende zu bereiten und sich in ihre Zellen zu begeben, um wenigstens noch zwei, drei Stunden Schlaf bis zum Beginn der Vigilien zu finden.
»Ich danke dir, dass du in dieser schweren Stunde für mich da gewesen bist und auch über alles Stillschweigen halten wirst, Laurentius!«, flüsterte Notker, als sich ihre Wege im Obsthain
trennten. »Ich bin froh, dass du zu uns gekommen bist und wir so schnell Freunde geworden sind! Dem Allmächtigen Lob und Dank, dass er uns eine so gute Seele wie dich geschickt hat!«
Sebastian lächelte verlegen, bezweifelte er doch, dass er ihm der erhoffte Freund sein konnte. Und dass ihn nicht der Himmel, sondern der Kapuzenmann in dieses Kloster geschickt hatte, konnte er ihm auch nicht sagen.
»Schlaf gut, Laurentius!« Notker schenkte ihm ein von Dankbarkeit und Herzlichkeit erfülltes Lächeln. »Also dann, bis zu den Vigilien! Und gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit, Amen.«
Mit dem beunruhigenden Gefühl, ungewollt bei Notker Erwartungen geweckt zu haben, die er nicht erfüllen konnte, kehrte Sebastian in seine Kammer in der einstigen Kornmühle zurück. Todmüde sank er auf seinen Strohsack und zog die Decken über sich. Diesmal ließ der Schlaf nicht lange auf sich warten.
Die Geißelung, bei der er den Novizen in der Marienkapelle überrascht hatte, verfolgte ihn bis in seine Träume. Nur war es in seinem grässlichen Alptraum er selbst, auf dessen Rücken die Peitsche mit den knotigen, blutgetränkten Lederriemen niedersauste. Und es war der Scherge Jodok, der die Geißel in einer Kerkerzelle mit grimmiger Genugtuung schwang, während der Domherr Tassilo von Wittgenstein der Tortur mit bösartig wohlgefälligem Lächeln zusah und seinem Handlanger immer wieder anfeuernd zurief: »Tausend Streiche! … Tausend Streiche! … Tausend Streiche!«
6
Am folgenden Morgen erhielt Sebastian eine erste Kostprobe von dem unberechenbaren, hitzigen Temperament des Novizenmeisters, vor dem Notker ihn in der Nacht zuvor gewarnt hatte.
Während die Mönche sich nach der Prim zur Kapitelsitzung versammelten, verbrachte er die halbe Stunde bis zum Arbeitsbeginn in der Druckwerkstatt damit, mehrere große Körbe mit Feuerholz zu füllen und in die Klosterküche zu schleppen. Er wünschte, schon jetzt etwas zu sich nehmen zu dürfen, aber im Kloster gab es nur zwei Mahlzeiten am Tag, die erste zur Mittagsstunde und die zweite am Abend zwischen Vesper und Komplet. Sich daran zu gewöhnen würde ihm schwer fallen.
Nachdem er die ihm aufgetragene Arbeit erledigt hatte, suchte er noch schnell den Abort auf, der ihn mit seiner Rinne fließenden Wassers überraschte, war er es bisher doch nur gewohnt gewesen, sein Geschäft in einem stinkenden Verschlag über einer Latrinengrube zu
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