Das Kloster der Ketzer
Irrlehren und innere Aufweichung schützen, wenn man genaue Kenntnis von dem hat, vor dem man sich schützen will. Nur wer die Waffen und Taktiken seines Gegners kennt, kann seine eigenen Kräfte richtig und sinnvoll einsetzen, um als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorzugehen.« Er machte eine kurze Pause, um dann mit fester Stimme zu verkünden: »Deshalb habe ich nach reiflicher Überlegung beschlossen, dass wir zu unserer gemeinsamen Glaubensstärkung und Wissensbereicherung hier im Kapitelsaal unsere eigene Wormser Disputation zwischen Martin Luther und Johannes Eck haben werden – indem wir sie nämlich nach besten Kräften nachstellen.«
Die Ankündigung schlug wie ein Blitz ein und traf die versammelte Ordensgemeinschaft wie ein lähmender Schock. Für einen langen Moment saß ein jeder wie erstarrt im Gestühl. So mancher Mund stand ungläubig weit auf.
Auch Sebastian war wie vom Donner gerührt und glaubte, seinen eigenen Ohren nicht trauen zu dürfen. Die berühmte Wormser Disputation zwischen Martin Luther und Johannes Eck hier im Kloster Unserer Lieben Frau vom Inn? Unglaublich! Aber nein, Abt Adelphus hatte dies und nichts anderes soeben verkündet!
Die allgemeine Erstarrung löste sich nach zwei, drei Herzschlägen fast atemloser Stille. Und plötzlich sprachen alle auf
einmal. Ein lautes und erregtes Stimmengewirr brandete gegen die Buntglasfenster und schoss wie die glühende Lavafontäne eines ausbrechenden Vulkans zum Rippengewölbe des Kapitelsaals empor. In diesem wilden Durcheinander hoben sich die entrüsteten Stimmen des Cellerars und des Priors besonders klar von den vielen anderen ab, aber auch Bruder Clemens, der über das Scriptorium gebot, versuchte sich mit seiner hohen Fistelstimme Gehör zu verschaffen.
Abt Adelphus ließ seine Mitbrüder eine Weile gewähren, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sie zur Ordnung zu rufen. Mit unbeweglichem Gesicht und aufrecht wie ein in den Boden gerammter Pfahl saß er im Lehnstuhl, in dem sich seine nach langer Krankheit abgemagerte Gestalt fast verlor. Dann jedoch, als er wohl meinte, dass es nun genug des unziemlichen Lärms sei, stieß er seinen Krückstock dreimal hart und mit durchdringendem Klang auf den Steinboden.
Augenblicklich fiel das lärmende Stimmengewirr in sich zusammen wie ein frisch aufgegangener Teig, der plötzlich unter eisigen Windhauch gerät und alle aufblähende Kraft verliert. Das letzte Gemurmel versickerte unter dem gestrengen Blick des Abtes.
Sofort nutzte der Prior das einsetzende Schweigen dazu, um als Erster seine heftigen Einwände vorzubringen. Aber er kam über den ersten Halbsatz nicht hinaus.
»Ich kenne Eure Bedenken, ohne dass Ihr sie auszusprechen braucht, und ich weiß sie auch zu würdigen, weil ich sie schon längst selbst mehr als einmal im Geiste durchgegangen bin und im Gebet geprüft habe, werter Bruder Sulpicius«, fiel Abt Adelphus seinem Prior schon nach dessen ersten Worten freundlich, aber bestimmt in die Rede. »Doch ich habe meinen Entschluss nach gründlichem Abwägen und langem Verharren im Gebet gefasst und dieser Entschluss ist unverrückbar. Und
da ich um Eure Gelehrsamkeit und unzweifelhafte Festigkeit im Glauben weiß, übertrage ich Euch die Aufgabe, in der Disputation die Rolle des Johannes Eck zu übernehmen.«
Groll und Empörung auf dem Gesicht des Priors verwandelten sich im Nu in eine Miene wohlgefälliger Überraschung. »Nun, wenn das Euer Wunsch ist, ehrwürdiger Vater Abt, so werde ich diese verantwortungsvolle Aufgabe demütig auf mich nehmen und gewissenhaft zu erfüllen versuchen«, versicherte er salbungsvoll.
Abt Adelphus nickte mit unbewegter Miene. »Da dies nun geklärt ist, brauchen wir noch einen aus unserer Mitte, der bei der Disputation die Rolle des advocatus diaboli 25 übernimmt und uns mit derselben Wahrhaftigkeit und Gelehrsamkeit die Überzeugungen des Martin Luther vorträgt.«
Sebastian ahnte sofort, was nun kommen würde.
Und richtig, der Blick des Abtes richtete sich schon im nächsten Moment auf den Novizenmeister. »Ich denke, für diese Aufgabe ist wohl keiner so gut geschaffen wie unser nicht minder gelehrter Bruder Scriptoris, da er doch in seinem einstigen Heimatkloster im Wittenberger Land die unseligen Auseinandersetzungen mit den Lehren des Martin Luther am eigenen Leib zu spüren bekommen hat und wohl besser mit ihnen vertraut ist als jeder andere von uns.«
Nun war es Bruder Scriptoris, der Einwände dagegen er
hob, aber
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