Das Kloster der Ketzer
der Teufel mit seinem zerstörerischen Gefolge unter den Menschen auf dem Vormarsch sei. Die göttliche Ordnung sei von einem wachsenden Heer von Ketzern und anderen Gottesfeinden bedroht, die wie ein riesiger, wimmelnder Schwarm über die Welt herfielen und sie ihrem Untergang entgegentrieben.
Sebastian wünschte, Bruder Scriptoris hätte sie nicht allein gelassen, und er atmete erleichtert auf, als die Glocke schließlich zur Sext rief und er Pachomius’ beklemmenden Vorahnungen, Schauergeschichten und Selbstvorwürfen endlich entkam. Die fast wollüstige Besessenheit, mit der sich der junge, pummelige Klosterbruder immer wieder mit seinen inneren Dämonen beschäftigte und sich selbst zerfleischte, be
stürzte ihn und machte es ihm so gut wie unmöglich, so etwas wie freundschaftliche Gefühle für ihn zu empfinden.
Auf dem Weg über den Hof dachte er an Lauretia und daran, dass sie letzte Nacht verabredet hatten, sich das nächste Mal nicht erst wieder in einer Woche, sondern schon in drei Tagen dort unten am Fluss zu treffen. Er hoffte inständig, dass es ihr in der kurzen Zeit gelang, Stumpe ausfindig zu machen, über ihn Kontakt mit dem Kapuzenmann aufzunehmen und ihm begreiflich zu machen, dass er, Sebastian, nicht länger gewillt war, die Rolle der Puppe am Ende der Fäden zu spielen, an denen der mysteriöse Puppenspieler nach Belieben zog. Die Ungewissheit, wer er war und um was es ging, musste ein Ende haben! Wenn der Kapuzenmann es wirklich gut mit ihm meinte, dann würde er ein Einsehen haben und ihm die Antworten auf all die vielen Fragen nicht länger vorenthalten!
Sollte sich der Kapuzenmann jedoch weigern und irgendwelche Ausflüchte vorbringen, würde er zusammen mit Lauretia eigene Pläne für eine Flucht schmieden, so hatten sie es ausgemacht. Er hatte nicht vergessen, wohin Ansgar und Elmar ihn auf Anweisung seiner geliebten Ziehmutter hin hatten bringen sollen, um vor Tassilo von Wittgenstein sicher zu sein. Und sie verfügten über ausreichend Geld, um nicht nur eine Flucht aus Bayern glücken zu lassen, sondern sich auch fern von Passau und seinen mächtigen Domherrn zusammen eine Existenz aufbauen zu können. Sie durften nicht zulassen, dass ihnen das Heft des Handelns aus der Hand glitt und sie zum willenlosen Spielball von Männern wie dem Kanoniker und dem Kapuzenmann wurden.
Zudem spürte er, dass er es auch so nicht mehr lange im Kloster aushalten würde. Seine Unruhe wuchs mit jedem Tag, und nicht erst seit dem rätselhaften Diebstahl der Reisebibel. Dass auch hinter den Mauern des Klosters Gefahren lauerten,
war inzwischen mehr als nur eine vage Ahnung. Es war für ihn Gewissheit. Die einzige Gewissheit neben der, dass er Lauretia liebte und sie ihn. Je nach dem, was Lauretia für Nachrichten aus Passau brachte, war er sogar entschlossen, erst gar nicht wieder ins Kloster zurückzukehren. Und dieser Gedanke verschaffte ihm ein wenig innere Ruhe, als er sich wenig später in den Strom der Mönche einreihte, die sich zur Sext begaben.
Wie sehr das Flugblatt Wider die heidnische Barbarei im Namen unseres Herrn und Erlösers! und die ungewöhnliche Reaktion des Vater Abtes darauf den gesamten Konvent in große Unruhe und Aufregung versetzt hatten, merkte Sebastian an diesem Tag an vielen Kleinigkeiten, die ihm zu Beginn seines Aufenthaltes vermutlich überhaupt nicht ins Auge gefallen wären. Jetzt aber vermochte er die Blicke und hektischen Handzeichen der Klosterbrüder besser zu deuten. Ihm entging auch nicht, dass hier und da getuschelt wurde, wo doch eigentlich das Schweigegebot galt. Und wie bei einem wild schwirrenden, gereizten Bienenschwarm verspürten offenbar nicht wenige Lust, ihren Giftstachel in das Fleisch desjenigen zu bohren, der sie so aus ihrem ruhigen Alltag aufgescheucht hatte.
Zu ihnen gehörten der Cellerar Bruder Vitus, Bruder Clemens, der Vorsteher des Scriptoriums, und der vierschrötige Bruder Egidius, der für die großen Fischteiche jenseits der Klostermauer verantwortlich war.
Die drei Männer standen nach dem Abendessen auf der Rückfront des Konventshauses beisammen und ahnten nicht, dass jemand hören konnte, was sie dort sprachen. Den schmalen Kellerschlitz knapp über dem Erdboden in ihrer Nähe übersahen sie wohl, vermutlich wegen der Sträucher, die dort wuchsen.
Sebastian war in dieser Woche mit Pachomius und zwei
anderen jüngeren Mönchen zum Küchendienst eingeteilt worden. Gerade hatte er ein leeres und ausgewaschenes Gurkenfass in den
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