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Das Kloster der Ketzer

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Titel: Das Kloster der Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M Schroeder
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war.

15
    Unter verdrossenem Schweigen versammelte sich der Konvent am nächsten Tag eine knappe Stunde vor der Vesper im Kapitelsaal. Es wurde leise getuschelt. Das Gemurmel klang wie ein dunkles Gewittergrollen, das zwar noch aus weiter Ferne kam, aber dennoch schon bedrohlich klang.
    Sebastian beobachtete die einziehenden Mönche und bemerkte viele ergrimmte, teilweise sogar unverhohlen feindselige
Blicke. Sein besonderes Interesse galt dabei dem Cellerar sowie Bruder Clemens und Bruder Egidius. Und er fragte sich, als er in dem finsteren, höckernasigen Gesicht von Bruder Vitus forschte, wie weit ihr Komplott gegen ihren Oberen wohl schon gediehen sein mochte.
    Abt Adelphus schien die grimmigen Blicke, die ihn von allen Seiten trafen, und die verdrossene Stimmung nicht wahrzunehmen. Sein Blick ruhte unbeirrt auf dem Kruzifix, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Es war, als hielte er mit dem Gekreuzigten, dem eine dornenreiche Krone das Haupt blutig gerissen hatte, stumme Zwiesprache.
    In der Mitte des Saals warteten auf die beiden Disputanten schon zwei brusthohe Stehpulte, die man aus dem Scriptorium herbeigeschafft hatte. Sie waren so aufgestellt, dass die beiden Redner sich halb schräg gegenüberstanden, sich gleichzeitig aber auch gut im Blick des versammelten Konvents befanden.
    Als Bruder Scriptoris und Bruder Sulpicius sich nun hinter die Stehpulte begaben und auf der schrägen Holzfläche die Blätter mit ihren Notizen ablegten, wurde es einige Wimpernschläge lang so unnatürlich still, als gäbe es kein menschliches Leben im Kapitelsaal.
    Abt Adelphus brach die schwer lastende Stille, indem er die ungewöhnliche Kapitelsitzung mit einem nicht weniger ungewöhnlichen Gebet begann. »Herr, die ganze Welt ist vor dir wie ein Stäubchen auf der Waage, wie ein Tautropfen, der am Morgen zur Erde fällt. Du hast mit allen Erbarmen, weil du alles vermagst, und siehst über die Sünden der Menschen hinweg, damit sie sich reumütig bekehren. Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast. Denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht erschaffen. Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins
Dasein gerufen wäre? Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens!« 27
    Sebastian wunderte sich im Stillen, dass der Vater Abt die Disputation ausgerechnet mit solch einem Gebet begann, das doch die Barmherzigkeit und den Großmut Gottes, der ein Freund des Lebens sei, so nachdrücklich betonte. Denn stand diese biblische Botschaft nicht in krassem Gegensatz zu der unbarmherzigen Politik der Kirchenoberen, die mitleidlos jede ketzerische Äußerung sogleich mit dem Feuertod ahnden wollten?
    Bruder Vitus machte ein verkniffenes Gesicht, als hätte man ihn eben gezwungen, sich den Mund mit bitterstem Essig auszuspülen. Auch andere Gesichter verfinsterten sich zusehends. Hier und da hörte man nervöses Räuspern und Sandalenscharren.
    »Im Sieb bleibt, wenn man es schüttelt, der Abfall zurück«, fuhr der Abt mit klarer Stimme fort. »So entdeckt man die Fehler eines Menschen, indem man über ihn nachdenkt. Töpferware wird nach der Brennhitze des Ofens eingeschätzt, ebenso der Mensch nach dem Urteil, das man über ihn fällt. Der Art des Baumes entspricht seine Frucht; so wird ein jeder nach seiner Gesinnung beurteilt. Lobe keinen Menschen, ehe du ihn beurteilt hast; denn das ist die Prüfung für jeden!« 28 Er machte eine kurze Pause, um den mahnenden Worten des Bibelzitats Nachdruck zu verleihen. »Und nun lasst uns mit der Disputation beginnen! Jeder Seite sei eine allgemeine Eröffnungsrede eingeräumt, die sich jedoch auf wenige Minuten beschränken sollte. Und alle Mitbrüder sollen hiermit noch ein weiteres Mal daran erinnert sein, dass beide Disputanten nicht
sich selbst vertreten, sondern sich zur Stärkung unserer Glaubensgewissheit redlich bemühen, die Argumentation des Doktor Johannes Eck und des Doktor Martin Luther nachzustellen.«
    Der Cellerar gab ein geringschätziges Schnauben von sich und tat denn so, als hätte er sich schnäuzen müssen, um diese Respektlosigkeit halbwegs zu überspielen.
    Der Abt überließ dem Wurf einer Münze die Entscheidung, wer von den beiden Disputanten zuerst das Wort ergreifen durfte. Das Los fiel auf den Novizenmeister.
    Bruder Scriptoris sammelte sich kurz, segnete sich stumm und begann dann mit den Worten: »Vor Euch, werte

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