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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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gesteckt?«, frage ich, und da erzählt uns Tryggvi von seiner Oma. Sie waren bei ihr zu Besuch gewesen, nur die beiden, und sollten bei ihr übernachten und so, und sie saß in ihrem Lieblingssessel und schenkte ihnen Karamellbonbons und versuchte ihnen einzureden, sie sei auch einmal in ihrem Alter gewesen.
    »Sie wohnte im Skagafjörcfur«, sagt Tryggvi.
    »Nein, an den Skagaströnd«, berichtigt ihn Gunni.
    »Nein, Skagafjördur.«
    »Skagaströnd!«
    »Skagafjördur!«
    »Skagaströnd!!«
    »Skagafjördur!!«
    »Skagaströnd!!!«, brüllt Gunni.
    »Okay«, sagt Tryggvi, »dann wohnte sie eben an den verdammten Skagaströnd und war ein junges Mädchen und lebte in einem Haus mit Gras auf dem Dach, es gab jede Menge Kühe, aber keinen Kiosk oder kein Geschäft, keine Bürgersteige und keinen Fußballplatz, und trotzdem war ihr nicht langweilig, und sie wollte uns mal etwas sehr Lustiges erzählen, es war so komisch, dass sie selbst gleich loslachte, sie hat so gelacht, dass sie gar nichts erzählen konnte, und dann hat sie aufgehört zu lachen, weil sie nämlich tot war.«
    Sie starb lachend in ihrem Lieblingssessel, und die beiden Brüder saßen auf dem Boden und hatten den Mund voller Karamellbonbons. »Scheiße, sie war die beste Oma der Welt«, sagt Tryggvi, und Gunni fängt an zu weinen. Es ist schon vier Tage her, seit es passiert ist, aber Gunni fängt trotzdem an zu heulen, aber gut, er ist noch ein Jahr jünger als Tryggvi und ich. Tryggvi schleicht sich in die Küche und klaut für Gunni ein paar gefüllte Kekse von Fron, dann gehen wir nach draußen. Es hat aufgehört zu regnen. Die Wolken reißen auf, der Himmel glotzt auf uns herab, die Welt ist nass und auch ein bisschen kalt. Ich versuche, Witze zu reißen und die Brüder zum Lachen zu bringen oder wenigstens zum Grinsen, aber es funktioniert nicht, sie stehen bloß schweigsam und bedrückt in der Gegend herum. Ich zerbreche mir den Kopf, will unbedingt auf etwas so Komisches kommen, dass sie für eine Weile ihre gestorbene Großmutter vergessen, doch da fängt Petur an zu erzählen. Seit wir in der Wohnung der beiden Brüder waren, hat er kein Wort gesagt, jetzt aber macht er den Mund auf und fängt an zu erzählen. Er spricht von der Zeit.
    Zuerst aber von der Großmutter der Brüder.
    Er erinnert uns noch einmal daran, dass sie vor langer, langer Zeit auch einmal ein kleines Mädchen gewesen ist. Petur redet langsam wie ein müder, alter Lehrer.
    »Einmal waren Söbekk, der Griesgram und sogar der Alte auf der dritten Etage Jungen wie wir. Sie rannten durch Safamyri und bewarfen Autos mit Matsch, doch dann verging die Zeit, alles änderte sich und sie waren keine Kinder mehr, sondern so, wie wir sie heute kennen. Und«, fährt Petur fort, »bald sind wir auch keine Kinder mehr, sondern irgendwas ganz anderes. Wir werden nicht mehr hier wohnen, wir sehen uns nicht mehr, und Tryggvi trägt vielleicht immer einen Anzug, denkt viel nach und geht langsam und bedächtig, um seine Gedanken nicht durcheinander zu bringen, und er sagt Verzeihung, wenn er hustet.«
    Tryggvi starrt Petur wütend an, aber mich überläuft ein kalter Schauer, und im selben Moment begreife ich das, was man die Zeit nennt.
    Ich nehme sie wahr wie einen leisen, aber tiefsitzenden Schmerz.

All das hat die Zeit auf dem Gewissen.
Variationen über ein Thema
    Viele Jahre sind seitdem vergangen, mehr als wir uns damals überhaupt vorstellen konnten, und sie haben wirklich einiges verändert. Darin hat Petur Recht behalten. Ich begreife trotzdem nicht, warum es so kommen musste. Ich verstehe das nicht, was man die Zeit nennt. Alles, was wir kannten – und das Meiste darunter war uns so vertraut, dass wir es nicht einmal mehr wahrnahmen -, ist verschwunden. Die schwarzen Gummistiefel, in denen wir vor dem Block standen, unsere Hosen, die Freundschaft, die uns fest zusammenhalten ließ, und der alte Söbekk – alles weg, spurlos verschwunden. Ja, Söbekk ist nicht mehr, ich weiß, es klingt wie ein übler Scherz, pervers, aber er ist verschwunden, sein Kiosk ebenfalls und seine fauchenden oder knurrenden Töchter in der Luke, der Range Rover und Söbekks Frau, kaum jemals mehr als ein Schatten hinter den beschlagenen Scheiben – weg.
    Spurlos.
    Stiefel, Kiosk, Freundschaft – all das hat die Zeit auf dem Gewissen. Alles hat sich gewandelt, und viele Jahre sind vergangen, mehr als wir uns damals vorstellen konnten. Es ist spät im November 2002, und ich sage es noch einmal: Söbekk

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