Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Dachfirst gesehen, allerdings nicht die Schwimmhalle. Aber ich glaube, es ist in Ordnung, dass Stiefmutter das Hallenschwimmbad nicht kennt und dort noch nie ihre Sachen an einen Haken gehängt hat, es eilt nämlich nicht, ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass Stiefmutter uns so bald wieder verlassen wird. Sie ist zu Hause, wenn ich morgens in die Schule gehe, und sie ist zu Hause, wenn ich zurückkomme; und jeden Freitag sitze ich auf dem roten Sessel und tue so, als würde ich lesen, während ich sie beim Staubwischen überwache.
Sonntags fahren wir manchmal mit dem Trabant zu Urgroßmutter, der es immer schwerer fällt, sich im Bett aufzusetzen, oder wir besuchen Bekannte von Vater; einmal fahren wir auch zur Hallgrimskirkja und dürfen den Turm besteigen, bis ganz oben, den halben Weg zum Himmel, denn Papa arbeitet an der Kirche, er, der Trabbi und die Maurerkelle. Da steht Vater oben und zeigt: »Das ist der Skölavör3ustigur«, sagt er zu Stiefmutter, »da das Viertel Hlidar und da der Berg ist der Keilir.« Ich aber betrachte nur das Meer, das in den Himmel hinein zu verschwinden scheint.
Italien und Enid Blyton
Ich bin in meinem achten Lebensjahr und habe schon lange gelebt. Der Mond ist so oft groß geworden und wieder klein, dass der Himmel nicht mehr weiß, woran er ist, der Ozean kann nicht mehr all die Schiffe zählen, die seinen gewaltigen Rücken gekratzt haben. Wer sieben Jahre alt ist, weiß so das eine oder andere: Fünf mal vier ist zwanzig. Der größte See Islands heißt Pingvallavatn. Frankreich ist viel größer als Dänemark, aber Russland ist noch einmal um vieles größer als Frankreich.
Das weiß ich schon und noch vieles mehr, denn wer in der Stadt Reykjavik wohnt, entdeckt ständig neue Dinge. Zum Beispiel beobachtet man andauernd Menschen. Ich überquere die Straße und sehe Söbekk mit einer dicken Zigarre im Mund auf den Range Rover zugehen. Ich gehe in die Bäckerei, und Bödvar bückt sich zu mir herab, streckt seinen Kahlkopf vor und sagt: »Ich schenke dir ein ofenwarmes Wienerbrot, wenn du ein Haar auf meinem Schädel findest.«
Ich suche ihn genauestens ab und streiche mit der Hand darüber. »Noch mal«, sagt Bödvar, »such noch gründlicher!«
Die Berührung ist angenehm, sein Schädel ist glatt und runzlig zugleich, weich und hart, aber ich bin schon kurz davor, aufzugeben, als ich entdecke, dass seine Ohren voller Haare sind, und dafür bekomme ich ein frisches Wienerbrot. »Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?«, fragt Bödvar. »Genauso groß wie du«, antworte ich und bekomme noch ein Wienerbrot. Ich erkläre ihm, was ich von Frankreich und dem Pingvallavatn weiß. Bödvar meint, er habe keine Ahnung vom Pingvallavatn, würde mir aber dringend empfehlen, mir nicht allzu viele Gedanken über Frankreich zu machen. Gleich daneben liege nämlich ein anderes Land und das heiße Italien. »Italien«, sagt er, »liegt viel näher an der Sonne, es ist wärmer und sonniger als Frankreich, und die Italiener sind immer lustig und munter, während die Franzosen andauernd meckern und Streit anfangen. Und soll ich dir auch sagen, warum? Es liegt nämlich nicht nur an der Sonne, sondern auch daran, dass Italienisch eine wunderschöne Sprache wie Gesang ist, Französisch aber ist so hässlich, dass es klingt, als würde es mit dem Arsch gesprochen. Wer eine solche Sprache sprechen muss, kann ja nie fröhlich sein.« Bödvar holt tief Luft. Das sieht aus, als würde er noch viel größer werden und seinen Schatten über die halbe Erde werfen. »Na, Junge«, sagt er, »dann komm mal mit mir nach hinten.« Erst schließt Bödvar noch die Ladentür ab, denn wir sollen auf keinen Fall gestört werden, dann gehen wir hinter die Ladentheke und in die Backstube. Überall liegt Mehl, auf einem Tisch steht ein Plattenspieler. Bödvar hört nämlich Musik, wenn er nachts backt, aber das habe ich bestimmt schon erzählt. Er legt eine Platte auf. »Hör mal gut zu!«, sagt er, und eine Frau fängt zu singen an. Bödvar lächelt, seine roten Augen werden noch roter, ich aber gucke auf ein ganzes Blech duftender Zimtschnecken. Bödvar stellt die Musik noch lauter, langsam schließt er die Augen, ich schaffe es, anderthalb Schnecken zu verdrücken, ehe die Platte zu Ende ist. Bödvar schüttelt den Kopf. Erst glaube ich, dass es wegen der Zimtschnecken ist, doch dann sagt er: »Einfach himmlisch!«, legt mir dann seine Pranke auf den Kopf und meint, ich solle nach Hause gehen.
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