Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Ich gehe aber nicht gleich nach Hause, sondern mache noch einen Abstecher in die Buchhandlung, lasse mich dort nieder und darf mir ein Buch ansehen. Ich bin pappsatt von dem Wienerbrot und den Zimtschnecken, mir ist sogar ein bisschen flau. Mit Sicherheit bekomme ich kein Abendbrot mehr runter. Stiefmutter wird mich böse ansehen, und ich werde lange vor meinem randvollen Teller sitzen.
Der alte Mann, dem die Buchhandlung gehört, sitzt auf seinem Hocker und legt Patience. Ich bin eigentlich der Einzige, der ihn leiden kann. Oft fährt er die anderen Kinder an und droht ihnen mit seinen Händen, die an halb durchsichtige Fische erinnern. Mit mir schimpft er dagegen nie, und ich darf stundenlang bei ihm herumstöbern. Er sitzt bloß auf seinem Hocker und zwinkert hinter den dicken Brillengläsern mit den Augen. Er kennt Enid Blyton. Sie schreibt die wirklich wichtigen Bücher. Wenn ich sie erwähne, wird der Alte ganz aufgeregt. Dann nimmt er die Brille ab und zwinkert so schnell mit den Augen, dass sich die Lider in winzige Flügelchen verwandeln, und es hebt ihn von seinem Sitz.
»Du kennst Enid Blyton?«, frage ich verblüfft.
»Die Enid? Ja, das will ich wohl meinen. Eine wunderbare Frau.«
Und ich sehe es vor mir, wie er und Enid Blyton unter einem großen Baum eine Wolldecke ausbreiten, der Wind raschelt im grünen Laub, sie trinken Limonade, im Picknickkorb liegen Brote mit Marmelade, Birnen, Kuchen und Zimtschnecken. Dann setzt er die Brille ab, nimmt Enid bei der Hand, und gemeinsam heben sie ab.
Sie wie einen leisen, aber tiefsitzenden Schmerz wahrnehmen
Siebenundzwanzig Wohnungen befinden sich in meinem Block, in den meisten leben Kinder. Sämtliche Altersstufen sind vertreten, doch an manchen Abenden ist das Wetter so oder es herrscht ein solch eigentümliches Licht, dass wir alle Altersunterschiede und Streitereien untereinander vergessen und alle zusammen »Rüber« spielen. Dann sind vielleicht dreißig Kinder damit beschäftigt, den Ball über die Garagen zu werfen. Ich versuche immer, in der gleichen Mannschaft wie Gunnhildur zu sein. Ich achte darauf, nicht viel schneller als sie zu laufen, und mit jedem Blick, den sie mir zuwirft, wird die Welt größer. Manchmal ruft sie sogar meinen Namen, dann könnte ich einen Eisbären killen und einen ganzen Seehund verputzen. Ich sehe oft ihre Hände an. Alles würde besser, wenn ich sie jeden Tag betrachten dürfte. »Die schönsten Hände der Welt«, sage ich zu den Soldaten. Das stimmt zwar nicht, aber ich behaupte es trotzdem so lange, bis sie mir glauben. Ich sage es so oft, damit sie am Ende vielleicht sogar schöner werden als Peturs Hände.
Petur hält es nicht lange draußen in der Kälte aus, denn der Frost fällt über seine Hände her, sie sind so weich und zierlich, schön wie Italienisch, weiß wie der Mond. Im Winter trägt Petur dicke Wollhandschuhe, doch bei beißendem Frost helfen sie nicht viel. Schon nach einer halben Stunde fängt er an zu heulen, und seine Arme hängen wie abgestorben an ihm herab. Früher ist er dann gleich nach Hause gelaufen und hat sich den ganzen Tag nicht mehr blicken lassen, und ich stand allein da, und aus vielem wurde nichts mehr. Darum habe ich mir etwas einfallen lassen, und wenn Petur jetzt anfängt zu jammern und die Arme wie abgestorben hängen lässt, sage ich nur: »Komm!«
Dann gehen wir ins Gebüsch oder hinter ein paar Autos oder die Garagen, Petur zieht die Handschuhe aus, und ich mache den Anorak auf und hebe den Pullover, Petur legt seine Hände auf meinen Bauch, und ich halte die Luft an. »Das tue ich, damit du nicht reingehst«, sage ich jedes Mal zu ihm, und Petur ist klug genug, niemandem davon zu erzählen, es ist das Geheimnis, das uns miteinander verbindet.
Seine Hände auf meinem Bauch.
Ich fühle sie immer noch, jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, so viele Jahre später. Ich denke an Hände auf meinem Bauch. Ich denke an alles, was sich verändert.
Wir haben viele Tage nacheinander strengen Frost, und es ist lange her, seit Petur und ich die Brüder gesehen haben. Wir beide sind allein; wenn es niemand sieht, gibt es Hände auf meinem Bauch. Eines Tages lässt die Kälte nach, es fängt an zu regnen, und Petur und ich beschließen, Tryggvi und Gunni zu besuchen. Ihre Mutter öffnet uns die Tür. Normalerweise lächelt sie und streicht uns sogar übers
Haar, dieses Mal aber spricht sie leise und blickt über uns hinweg. Wir gehen in das Zimmer der Brüder. »Wo habt ihr
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