Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
kurzes Knacken, und Urgroßvaters Schulterblätter haben sich in kleine Flügel verwandelt, mit denen er wie eine trunkene Schnake durch die Wohnung gaukelt.
Der November ist ein dunkler Monat.
Um den zehnten herum kommen warme Luftmassen aus Südwesten übers Meer mit dunklen, schweren Wolken. Keine Sterne zur Orientierung, die Himmelslaterne ist verschwunden. Urgroßvater zieht los, um Wasser, Lebensmittel und Medikamente zu besorgen, frische Luft zu schnappen und neue Nachrichten aufzunehmen. Es gibt wenig zu essen und wenige Neuigkeiten. Die ungepflasterten Straßen sind aufgeweicht und schlüpfrig, die Stiefel kleben, als wolle die Erde sich an ihnen festsaugen. Jeder Schritt bedeutet eine Anstrengung, das Leben ist nicht einfach. Der Kutter Snorri läuft aus und verschwindet, mit nur wenigen, todesbleichen Männern an Bord, auf dem nebligen Meer. Sie fangen ein paar Tonnen, kehren damit sofort in den Hafen zurück, und Urgroßvater kann von einem Karren unten in der Lækjargata zwei Schellfische erstehen. Er trägt sie, als wären sie zerbrechlich. Urgroßmutter isst nichts. Sie schreit auf, wenn ein schwarzer Hund durch die Wohnung läuft, und sie schimpft und weint, wenn sich die ältere Tochter vermeintlich kokett an ihrem Vater reibt. Endlich verschwinden solche Fiebervisionen, sie wird ruhiger, die Atemzüge werden tiefer. Das Mädchen setzt sich zu ihr und liest ihr aus dem Roman Halla und der Hof auf der Heide von Jon Trausti vor, doch Urgroßmutter hat Mühe, nicht den Faden zu verlieren, und schon im zweiten Kapitel wimmert ein deutscher Soldat: »Ein Königreich für ein Paar Socken!« – »Papa«, ruft das Mädchen, »Mama will ein Paar Socken haben, ihr ist kalt.« Urgroßvater legt sich zu ihr und wird umgehend zu einem deutschen Soldaten, die Erde bebt, »jetzt werden wir zusammen sterben«, flüstert Urgroßmutter. Doch sie stirbt nicht, und das Fieber geht zurück. Anstatt bei ihr im Bett zu bleiben, hält Urgroßvater es drinnen nicht mehr aus und verlässt die Wohnung, um anderswo seine Hilfe anzubieten, die auch dringend gebraucht wird. Die Mehrzahl der Einwohner Reykjaviks liegt krank darnieder, viele im Delirium, nicht bei Bewusstsein. Urgroßvater dringt in ein Haus ein, in dem eine ganze Familie im Koma liegt, er versucht, Menschen etwas zu trinken oder Nahrung einzuflößen, holt einen Arzt, wenn es nötig ist, hilft erschöpften Polizisten, blau angelaufene Leichen aus den Häusern auf einen Pferdewagen zu laden. Blau ist die Farbe des Todes. Es ist schwer, Tote zu schleppen, der Tod wiegt schwerer als das Leben. Einmal muss er ein Kind hinaus zum Wagen tragen, einen fünfjährigen Jungen, der blau zwischen seinen Eltern liegt. Sie hatten sich zu beiden Seiten zu ihm gelegt, um ihn warm zu halten, doch dann waren beide in einem heftigen Fieberschub selbst bewusstlos geworden, und der Junge war gestorben, ohne dass sie es mitbekommen hatten. Urgroßvater bettet den Kleinen vorsichtig auf den Wagen und streicht über sein Gesicht. Kaum etwas ist so verletzlich wie ein fünfjähriges Kind.
Sie treiben die Pferde an und trotten zur Schule im Stadtzentrum und tragen die Toten hinein, Urgroßvater hält wieder den kleinen Jungen auf den Armen, blickt auf dieses blaue, weiche und doch starre Gesicht hinab und denkt an die Eltern. Ihm und den Polizisten wird Kaffee und etwas zu essen angeboten, er würgt eine Scheibe Brot hinunter und schafft es gerade noch vor die Tür, ehe er sich übergeben muss. In einem Spurt rennt er von der Miðbæjarsköli hinauf zur Óðinsgata, stürzt nassgeschwitzt in die Wohnung, ringt nach Atem und sinkt erleichtert zu Boden, als er feststellt, dass alle wohlauf sind. Ehe er den Fußboden erreicht, ist er schon vor Erschöpfung eingeschlafen. Nach einer Stunde kommt er wieder zu sich und will noch einmal losgehen, aber das fällt ihm schwer, denn jedes Bein scheint ungefähr eine halbe Tonne zu wiegen.
15
Stiefmutter begreift allmählich etwas von der Bedeutung unseres Blocks. Sie weiß mittlerweile, dass man sicherheitshalber besser in die andere Richtung guckt, wenn die Linie 12 in Sicht kommt, und dass das, was sich in der Ferne erhebt, keine blutrünstigen Trolle sind, sondern die Bauten eines schrecklichen Wohnviertels, das BreicTholt heißt. Sie hat inzwischen Söbekk kennen gelernt und auch Bäcker Bödvar, und die Schere, die so groß ist wie ein Krokodil oder sogar Automobil, kann sie nicht mehr überraschen. Sie hat sogar das Schiff auf dem
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