Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
wolle sie fliegen. Urplötzlich hört sie auf zu reden und fängt an zu weinen. Es ist das erste Mal, dass ich einen Erwachsenen weinen sehe. Ihre Schwester, die neben mir gesessen hat, steht auf, nimmt sie in den Arm und sagt: »Na, na«, aber dann fängt sie selbst an zu heulen. Es ist ziemlich blöd, aber zum Glück klopft Opa den beiden auf die Schultern und sagt: »Jetzt gießen wir erst mal Kaffee auf, und dann setzen wir uns mit Papier und Bleistift zusammen, denn es gibt so einiges aufzuschreiben. Das eine oder andere muss organisiert werden.«
Die Tante mit dem Silberhaar kommt zu mir. »Ist das nicht komisch, eine alte Frau heulen zu sehen?«, fragt sie und drückt mich danach so fest an sich, dass ich keine Antwort geben kann. Großvater meint, ich könne ihm helfen, den Kaffee reinzutragen. Ich tue es und setze mich danach wieder aufs Sofa, da hat jemand eine große Schachtel Konfekt auf den Tisch gestellt, und ich darf so viel daraus naschen, wie ich schaffe. Die anderen trinken Kaffee am Esstisch, und Großvater notiert etwas auf einem Blatt Papier. Der Dichter sagt, er hätte nur gern ein paar Bücher und weiter nichts, »ach ja, und die Kaffeetasse von Mutter. Ich möchte sie gern manchmal benutzen, wenn ich Kaffee trinke. Vielleicht spüre ich dann, dass sie doch nicht ganz von uns gegangen ist.« Die Schwester mit den silbernen Haaren fängt wieder an zu weinen. »Ach, unser kleiner Bruder, immer bist du so sensibel gewesen!« »Blödsinn, ich bin überhaupt nicht sensibel!« »Oh, doch, du warst doch unser aller Augenstern«, erwidert die Schwester und sieht ihn an. Ich bin nicht sicher, ob sie dabei weint oder lacht.
Dann unterhalten sie sich wieder über Urgroßmutter. Immer wieder fragen sie: »Weißt du noch? Weißt du noch?« Lange reden sie von Urgroßmutter, und wie man sich denken kann, kam Großvater nicht aus Norwegen, um mit mir Taxi zu fahren, sondern weil seine Mutter gestorben ist. Ich sitze noch immer auf dem Sofa und habe die Schachtel Konfekt mehr als zur Hälfte geschafft. Die einzelnen Stücke sind schon alt und zerbröckeln mir im Mund, aber das macht nichts. Großvater steht auf, er nimmt ein Bild mit einem Berg von der Wand. Ich interessiere mich nicht für Berge, aber dieser ist dick mit Schnee bepackt und ich habe ihn schon einmal durch die Fenster des Trabbis gesehen. Er liegt jenseits des Meeres in weiter Ferne. Wenn ich ihn sehe, möchte ich jedes Mal ein Waffeleis haben.
»Dieses Gemälde hätte ich gern für mich«, sagt Großvater. »Es hat mir da im Westen so gut gefallen. In meinen Träumen kehre ich oft dorthin zurück.«
16
Der Snæfellsjökull erhebt sich aus dem Meer und zeigt sich manchmal den Einwohnern von Reykjavik. Es gab einmal eine Zeit, da sahen Urgroßmutter und Urgroßvater den Berg seine Verankerung in der Erde abwerfen und frei in der Luft schweben. Das war, als sie mit siebzehn Jahren im Fensterrahmen stand. Im Winter nach der Spanischen Krankheit geht Urgroßvater häufig hinab ans Ufer, um das weiße Wunder des Gletschers über dem Horizont zu sehen. Reglos sitzt er da, schaut und nippt geschmuggelten Alkohol. Den ganzen Winter über wirkt er mehr wie ein Schlafwandler als wie ein Mensch. Urgroßmutter lässt einen Arzt holen, der diagnostiziert Erschöpfungszustand, es sei möglich, dass Menschen sich so verausgabten, dass die Persona, ihre Persönlichkeit, für kürzere oder längere Zeit wie betäubt sei. »Aber er wird sich ganz bestimmt davon erholen«, erklärt der Arzt. »So wenig arbeiten, wie es eben geht, Ruhe zu Hause und guter Tabak.«
Ruhe, ja, Urgroßvater bleibt manchmal tagelang zu Hause, trinkt, starrt vor sich hin und raucht. Es ist nicht mehr wie früher, als er aus dem Haus rannte, böse Dinge anstellte und anderen Leuten und seinem eigenen Gewissen übel mitspielte; jetzt ist er mehr wie ein düsterer, lebensmüder Stein. Der Winter vergeht, der Sommer kommt, und er sitzt noch immer da. Dann kommt der nächste Herbst, und die Berge färben sich weiß in der blauen Luft.
Urgroßmutter geht regelmäßig zum Friedhof, blickt auf ein einfaches Holzkreuz und redet mit der Frau, die darunter in der Erde liegt. Sie berichtet ihr von Urgroßvater, verschweigt nichts, erzählt auch von den Kindern und macht sich manchmal Sorgen über das ältere Mädchen. »Es würde mir wohl besser gehen, wenn du mir verzeihen könntest«, sagt sie manchmal in die Erde, erhält aber nie eine Antwort.
Der Winter dauert lange, das tut er immer,
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