Das Knochenhaus
Einfühlungsvermögen für die anderen zu besitzen schien – einen sechsten Sinn, der ihnen mitteilte, was die anderen gerade dachten. Zuerst hatte Kit geglaubt, dies sei auf die Tatsache zurückzuführen, dass sie so nah zusammenlebten und in einer solchen Harmonie miteinander waren: Auf diese Weise hätten sie einfach ein fundamentales Verständnis füreinander entwickelt, sodass sie Worte nicht benötigten. Doch im Verlaufe der Zeit bemerkte er, dass es etwas wesentlich Subtileres und Spezifischeres als das war: Es handelte sich um eine Art von Telepathie. Als Kit sie besser kennengelernt hatte, gelangte er zu der Auffassung, dass der Stamm nicht so viel sprach, weil jeder von ihnen instinktiv wusste, was alle anderen gerade dachten.
Die mächtigste Demonstration dieses Phänomens geschah eines späten Nachmittags. Die Abenddämmerung senkte sich früh über dem Lager nieder, und einige Frauen hackten gerade eine Wildschweinkeule klein, um das Braten vorzubereiten, während ein paar Männer Feuersteine bearbeiteten, um Schabmesser und Beilklingen herzustellen. Jeder war geschäftig und arbeitete still vor sich hin, als urplötzlich einer der Männer seinen Feuerstein fallen ließ und aufstand. Augenblicklich gesellten sich drei Frauen zu ihm. Nicht ein einziges Wort wurde gesprochen – nicht einmal ein Grunzlaut von sich gegeben –, doch alle vier verschwanden wie auf Kommando im Wald. Diejenigen, die zurückgeblieben waren, hörten ebenfalls mit ihrer Arbeit auf und begannen stattdessen, in der Nähe des Feuerrings ein Bett aus frisch abgeschnittenem Schilf und Binsen herzurichten.
Fasziniert beobachtete Kit, wie sie das Schilf aufhäuften und dann mit Häuten bedeckten; danach entzündeten sie das Feuer – eindeutig in Erwartung von etwas, das gleich stattfinden würde. Und tatsächlich: Nur wenige Minuten später kehrte die kleine Gruppe zurück, die in den Wald gegangen war, und trug einen der jüngeren Männer ins Lager. Er war zerkratzt und blutete; offenkundig hatte er Verletzungen davongetragen. Sie legten ihn auf das Schilfbett und pflegten ihn die ganze Nacht durch.
All das spielte sich ab, ohne dass auch nur eine einzige Silbe geflüstert wurde. Je mehr Kit darüber nachdachte, desto überzeugter war er von Folgendem: In dem Augenblick, als der junge Mann verletzt wurde, wussten alle anderen sofort, dass er in Schwierigkeiten war, und retteten ihn umgehend. Sie wussten es einfach ...
Doch so außergewöhnlich dies auch war – das, was Kit am meisten beeindruckte, war die Tatsache, dass sie sehr sanftmütig miteinander umgingen. Während der ersten Tage bei ihnen wurde er nicht ein einziges Mal Zeuge von wütendem oder aggressivem Verhalten. Sie schienen sich wirklich sehr gut zu vertragen – falls sie es nicht geradezu genossen, zusammen zu sein. Die Älteren waren eindeutig vernarrt in die Jüngeren, was sich ganz besonders im Lager zeigte. Den Kleinsten des Stammes war es nicht erlaubt, allzu weit in den angrenzenden Wald zu spazieren, es sei denn, ein Erwachsener war im Schlepptau.
Selbstverständlich gab es noch vieles über sie zu lernen, doch Kit war zufrieden damit, was er im Alltag auf natürliche Weise in Erfahrung zu bringen vermochte. Unterdessen bemühte er sich, ein guter Gast zu sein und seine Gastgeber nicht zu ärgern oder durch seine Gegenwart zu belästigen. Gleichwohl schienen die Mitglieder des Stammes ebenso von ihm fasziniert zu sein wie er von ihnen. Sie verpassten ihrerseits nichts, was er tat, und verfolgten jede seiner Bewegungen – von der Art und Weise, wie er seine Hände und sein Gesicht wusch, über das Putzen seiner Zähne mit zerkauten Haselnusszweigen bis hin zum Ausziehen der Schuhe vor dem Schlafengehen: Und jede dieser Tätigkeiten hatte großes Aufsehen erzeugt, als er sie zum ersten Mal ausgeführt hatte.
Die jüngeren Mitglieder des Stammes versuchten, ihn zu imitieren, die älteren beobachteten ihn bloß aus höflicher Entfernung. Und das, was den Clan am meisten erheiterte, war Kits Versuch, seine Kleidung zu waschen.
Eines Morgens erwachte er mit dem Bewusstsein der Tatsache, dass sowohl sein Hemd als auch seine Hose schmutzig waren und dass er sich selbst seit mehr Tagen, als er zu denken wagte, nicht mehr richtig gewaschen hatte. Und so traf Kit den Entschluss, dass die Zeit gekommen war, den Sprung ins tiefe Wasser zu wagen – und zwar buchstäblich. Er begab sich zum Fluss und fand eine Stelle, von der er annahm, dass sie abgelegen war und
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