Das Knochenhaus
Männer im Durchschnitt nur ein weniger größer waren und Frauen ein bisschen weniger massig; beide waren in die gleichen Felle und Pelze gekleidet – einige der Frauen zogen es vor, ihre Brüste besonders zu bedecken, andere taten es nicht –; beide besaßen die gleichen langen, dunklen, groben, drahtigen Haare, die sie entweder zu dicken, seilähnlichen Zöpfen flochten oder mit Lederstreifen zusammenbanden, in die sie interessante Blätter, Federn oder andere Gegenstände steckten, die sie aufgefunden hatten.
Während erst Tage und dann Wochen verstrichen, erwarb Kit ein umfassenderes Verständnis ihrer Verhaltensweisen und ihrer Mittel zum Überleben. Die Welt war ihre Speisekammer, und sie aßen, was auch immer ihnen in die Hände fiel; vieles schlangen sie hinunter, was Kit nie und nimmer über seine Lippen bekommen würde – wie Insekten und Würmer inklusive Larven. Meistens aßen sie mit den Fingern, nutzten allerdings Stöcke, um rohes Fleisch im Feuer zu braten. Doch das, was sie sich vor allem schmecken ließen, war das Mark aus den dickeren Knochen der größeren Tiere, die sie jagten.
Eines Tages kehrte die Jagdgesellschaft mit einer erlegten Antilope oder einem Schaf zurück – Kit konnte nicht mehr erkennen, um welche Art von Tier es sich handelte, weil sie die Beute bereits ausgeweidet und gehäutet hatten. Die Innereien waren weit entfernt zurückgelassen worden, damit ihr Geruch keine Raubtiere zum Lager lockte. Der Tierkadaver wurde mit großen Faustkeilen aus Feuerstein grob gevierteilt und dann in kleinere Stücke geschnitten, die man auf Schilfrohr-Spieße steckte. Später, als das Fleisch briet, wurde ein besonderer »Knack«-Stein geholt, auf dem man die größeren Knochen fachmännisch aufbrach, um auf die dunkle, geleeartige Leckerei zugreifen zu können. Kit schaute genau zu, als die Gaumenfreude verteilt wurde: Großer Jäger erhielt als Erster seinen Anteil und dann der Reihe nach die anderen. Obwohl ein, zwei Leute größere Stücke als die anderen bekamen, schien sich keiner darüber zu beklagen. Auch Kit wurde eine Portion angeboten.
Er ahmte das Verhalten der Stammesangehörigen nach und hob das zerbrochene Knochenstück an seine Lippen, um daran zu saugen. Die geronnene Substanz schmeckte nach Blut und Fleisch. Obwohl es nicht unbedingt widerwärtig und in vielerlei Hinsicht zweifellos gesund war, konnte er nicht die gleiche Begeisterung dafür aufbringen wie augenscheinlich die Stammesmitglieder. Aus Gründen der Höflichkeit aß er etwas davon, doch er fragte nicht nach mehr.
Die größtenteils aus Fleisch bestehende Ernährung des Stammes wurde ergänzt durch Wurzeln, Beeren und verschiedenes Grünzeug, das Kit zumeist gefiel. Allerdings begann er, einfache Gewürze zu vermissen, insbesondere Salz. Er machte sich im Kopf eine Notiz, diesen Mangel bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu beheben. Doch alles in allem aßen sie zu Genüge – an einigen Tagen mehr, an anderen weniger, was vom jeweiligen Jagdglück abhing. Kit schätzte, dass er bei dieser primitiven Ernährungsweise zwar nicht fett würde, aber auch nicht hungern musste.
Eines der faszinierenderen Merkmale ihrer Gesellschaft war die Tatsache, dass sie sehr ruhig sein konnten – und es in den meisten Fällen auch waren. Sie konnten sprechen, doch für gewöhnlich wurden sie nur dann redselig, wenn sie sich aufregten. Einmal fiel Kit ein Tag auf, an dem keiner von ihnen auch nur einmal redete. Von dem Augenblick an, als er am Morgen die Augen öffnete, bis zu dem Moment, als er am Abend ins Bett kroch, gab es nicht eine einzige stimmliche Äußerung. Lange Zeit wunderte er sich darüber, bis ihm der Gedanke kam, dass es sich hierbei um eine grundlegende Überlebenstaktik handelte – ein angeborener Trieb, keine unerwünschte Aufmerksamkeit durch vorbeiziehende Raubtiere auf sich zu lenken. Trotz dieser angeborenen Verschwiegenheit waren sie in anderer Weise sehr kommunikativ: Sie verfügten über ein sehr großes Repertoire an Gesichtsausdrücken, das einen professionellen Pantomimen mit Stolz erfüllt hätte. Dazu kam ein umfangreiches Spektrum an Gesten, das beinahe einer Zeichensprache gleichkam. In Kombination miteinander waren Gesichtsausdrücke und Gesten häufig vollkommen ausreichend, um überraschend komplexe Mitteilungen weiterzugeben.
Aber das war noch nicht alles. Schon in den ersten paar Tagen bemerkte Kit, dass jedes Mitglied des Stammes ein unheimliches, instinktives
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