Das Knochenhaus
ebenfalls aus Stein und versiegelt.
»Was ist das?«, fragte Arthur.
»Das ist das Grabmal von Lars Volsina«, antwortete der junge Mann. »Vor vielen Jahren war er ein König unseres Volkes.«
Sie kamen an einem anderen Türdurchgang vorbei, der auf der gegenüberliegenden Seite des Hohlweges in einer Nische errichtet worden war; und bald schon folgten zwei weitere. Während sie ihren Weg fortsetzten, sahen sie noch viele dieser kunstvoll ausgearbeiteten Fassaden: Einige waren größere, herrschaftlich ausgeschmückte Säulenvorbauten mit Stufen, andere bestanden nur aus einfachen steinernen Pfosten und einem Türsturz, die den Eingang umrahmten.
»Sind das alles Grabmale?«, fragte Arthur. »All diese Türeingänge?«
»Ja, alle sind Grabmale von Königen und Adligen.«
Der tief ins Gestein gehauene Gang führte in sanften Windungen weiter nach unten. Als er wieder geradeaus verlief, sahen sie in kurzer Entfernung vor sich eine Gruppe von Leuten, die vor einem weiteren in den Fels gemeißelten Grabmal standen. Dieses war ein bisschen größer und kunstvoller als die anderen; zudem gab es eine verdeckte Vorhalle, zu der steinerne Stufen hochführten. In einem Eisenbecken, das auf einem Dreifuß ruhte, hatte man ein Feuer entzündet, und Fackeln, die an den Säulen und Wänden des Hohlweges befestigt waren, verliehen dem Kalktuff einen warmen rötlichen Schimmer. Vor den Stufen stand ein steinerner Sockel, der mit einem orangefarbenen Tuch bedeckt war. Davor stand König Turms und auf jeder Seite neben ihm eine Frau in einem langen weißen Leinengewand. Die beiden Frauen hatten ihr Haar so geflochten, dass es über die gesamte Breite ihrer Schultern hinunterfiel; eine von ihnen hielt eine goldene Schüssel, die andere ein Messer mit einer Klinge aus schwarzem Glas.
»Seid willkommen, Freunde!«, rief Turms, als das Paar herbeikam und vor dem Sockel stehen blieb. »Dieses Ritual wird am besten auf dem Heiligen Weg in Gegenwart der ehrwürdigen Vorfahren durchgeführt«, erklärte er. »Dies ist ein höchst glückverheißender Ort.«
Arthur zeigte einen recht skeptischen Gesichtsausdruck.
Turms fuhr daraufhin fort: »Ich vermute, es erscheint dir sehr seltsam, dass die Feier anlässlich eines neuen Lebens zwischen Grabmalen stattfinden sollte. Trotzdem repräsentiert das – ebenso wie der Weg, den ihr genommen habt, um hierherzukommen – die Lebensreise selbst. Wir sind Reisende, und unser Körper und unsere Seele sind Gefährten auf der Lebensreise. Eines Tages werden beide gezwungen sein, sich voneinander zu trennen. Der Körper, der sich mit der Zeit erschöpft, wird schließlich seine letzte Ruhe finden.« Turms hob eine Hand und wies auf die umliegenden Grabmale. »Doch für jene, deren Seelen lebendig sind zum Zwecke der Schöpfung ...«, fuhr er fort, »... für sie gibt es kein allerletztes Reiseziel. Für sie ist der Tod bloß eine Rast, ein Zwischenspiel, bei dem man seine Kräfte sammeln kann für neue und größere Reisen. Freunde, wir sind zu Reisenden erschaffen worden. Ich frage euch: Welcher echte Reisende ist jemals an einem neuen Ort eingetroffen, ohne sich zu wünschen, ihn zu erkunden? Und welcher echte Reisende hat durch die Erkundung seine Reisen nicht fortgeführt – indem er neue Sehenswürdigkeiten erblickt, neue Wege kennengelernt, die Luft eines neuen Landes unter einem neuen Himmel eingeatmet und sich an neuen Entdeckungen erfreut hat?«
Turms der Unsterbliche, Priesterkönig der Velathri, wandte sich um und gab der Frau mit der Schüssel ein Zeichen. Sie trat vor und stellte das Gefäß auf den mit dem orangefarbenen Tuch drapierten Sockel.
»Zwar wird der Körper, den ihr in dieser höchst glückverheißenden Stunde zu mir tragt, eines Tages erschöpft sein und sterben, doch die neue Seele, die in diesem Körper die Welt betreten hat, ist unsterblich und wird niemals vergehen. Wisst dies, meine Freunde: Wir alle sind unsterblich – ein jeder von uns.« Er streckte die Hände aus. »Gebt mir das Kind.«
Xian-Li, die der einheimischen Sprache immer noch nicht ganz mächtig war und daher Turms’ Ausführungen mithilfe von Arthurs geflüsterter Übersetzung gefolgt war, legte ihren neugeborenen Sohn behutsam in die Hände des Königs. Turms hob den Säugling über seinen Kopf und gab ihn dann der Frau, die die Schüssel gehalten hatte. Sie wickelte das Baby aus den Tüchern und überreichte es nackt dem König, der es in seinen Armen wiegte.
»So wie die letzten Sterne der
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