Das Knochenhaus
Nicht einmal ein kleines bisschen.
Er drehte das Paket um. Die übereinander gefalteten Teile des Packpapiers waren mit einem Klecks altmodischem Wachs versiegelt worden. Neben dem Siegel war eine Botschaft: DENK noch nicht einmal daran, dieses Paket zu öffnen!
»Okay, ich hab’s verstanden«, murmelte Kit. »Scheibenkleister, was für eine Nörgelei. Ich werd das blöde Paket schon nicht öffnen.«
Er hatte sich dann das Paket unter sein Hemd gesteckt und auf den Weg zum Tempel gemacht. Als er schließlich an den zerbrochenen Überresten des Tempeltors angekommen war, schwitzte er aus jeder Pore, wobei der Schweiß nahezu augenblicklich trocknete, sobald er in Berührung mit der heißen Wüstenluft kam. Die gewaltigen Blöcke der legendenumwobenen Pylone – und ein Großteil der sich nach hinten neigenden Wände zu beiden Seiten des Tempeleingangs – waren zu Boden gestürzt. Die Wandbereiche jedoch, die erhalten geblieben waren, wiesen eine Höhe von mehreren Stockwerken auf. An vielen Stellen befand sich noch immer die ursprüngliche Bemalung, und die Farben leuchteten in dem glühenden Licht. Durch den nun leeren Eingang konnte Kit eingestürzte Säulen und noch mehr ungeordnete Schutthaufen sehen. Sie verteilten sich über eine ziemlich unebene Landschaft, die größtenteils von niedrigen Akazien, verkrüppelten Palmen unterschiedlichster Art und struppigem, kümmerlichem Riedgras geprägt war. Etliche Bettler lehnten träge gegen zerborstene Türeingänge; und in den Schatten vermochte Kit die Umrisse lauernder Wildkatzen zu sehen.
Er wischte sich die Schweißperlen aus dem Gesicht, legte die Hand auf das Paket, das er unter seinem Hemd trug, und ging in den Hofraum des Tempels. Er kletterte über einen Schutthaufen und trat in einen Bereich, der einst einen gewaltigen Trakt aus riesigen Säulen dargestellt hatte, die wie Papyrusbündel gestaltet waren. Einige von ihnen standen noch aufrecht und stützten voller Stolz die sie miteinander verbindenden Oberbalken, als ob sie das Gewicht des klaren blauen Himmels über ihnen tragen würden. Das Auftauchen von Kit wurde schnell von den geschäftstüchtigeren Bettlern erfasst, die herbeihumpelten, um ihn mit zahnlosem Gejammer und ausgestreckten schmutzigen Palmwedeln zu begrüßen.
»La, shukran« , sagte er ihnen; er sprach dabei so bestimmt und höflich, wie ihm möglich war.
»Sir! Sir!«, rief einer der Bettler auf Englisch. »Sie brauchen einen Führer, Sir?«
»Nein, danke schön. Mir geht ’s gut.« Kit schaute nicht auf, denn das würde den Burschen nur ermutigen. »Trotzdem danke.«
»Vielleicht suchen Sie jemanden?«
Bei diesen Worten schaute sich Kit um und sah einen verhutzelten Ägypter, dessen Haut wie rissiges Leder war und der einen sehr schmutzigen Kaftan trug. Vollkommen still stand er ein wenig entfernt von der Schar seiner in Lumpen gekleideten Genossen, die Kit bedrängten.
»Sie suchen jemanden«, meinte der Mann. »Das glaube ich.«
»Ja«, gab Kit zu und bedauerte augenblicklich seinen Fehler. »Ich suche jemanden – einen Engländer, um ehrlich zu sein.«
»Vielleicht suchen Sie ja Dr. Thomas Young«, deutete der freche Kerl an.
»Genau diesen Mann«, bestätigte Kit und trat näher. »Kennen Sie ihn?«
»Ich kenne ihn, Sir.« Der Ägypter hob seine Stimme und sprach einen kurzen Befehl aus, woraufhin die anderen unverzüglich mit dem Quäken aufhörten und schweigend wegschlurften. Dann wandte er sich wieder Kit zu. »Dein Freund ist nicht weit weg.«
»Danke«, sagte Kit, der sehr erleichtert war. »Ich möchte Sie in keinster Weise belästigen. Wenn Sie mir nur den richtigen Weg zeigen würden, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
Der Mann lächelte; seine Zähne waren wie ein weißer Blitz im Gewirr seines verfilzten Bartes. »Das ist keine Belästigung. Bitte folgen Sie mir.«
Trotz seines augenscheinlich sehr geringen Status verhielt sich der Mann mit großer Würde. Er bewegte sich durch die bröckelnden Ruinen – auf jeder Seite gab es zertrümmerte Monumente –, als ob er durch einen unversehrten Palast schreiten würde, und trat nur leicht auf die Steine unter seinen Füßen. Kit, der ihm hinterherlief, stolperte bisweilen über den unwegsamen, unebenen Untergrund und dachte an die Schätze, die nur einen Fuß unter der Erde begraben lagen. Vage erinnerte er sich daran, dass er Fotos von dem gesehen hatte, was man in seiner Zeit den Tempelkomplex von Karnak nannte – oder nennen würde –: ein riesiges
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