Das Koenigreich der Luefte
lahm, verletzt oder krank wird.«
»Sie hören sich an wie ein Carlist«, sagte Oliver.
»Das hat man mir früher schon gesagt«, nickte der Reverend. »Aber wenn man es genau nimmt, dann gibt es nicht viel in Gemeinwohl und das gemeine Volk, das nicht auch schon vom einen oder anderen Propheten in unserem heiligen Buch geäußert wurde. Die Menschen sind alles, was die Menschen haben, mein Junge. Wir müssen uns umeinander kümmern.«
Mit einem Schlag dämmerte Oliver die Erkenntnis, was der Reverend in Wirklichkeit tat. »Deswegen haben Sie hier alles wie eine Verbrecherbande organisiert! Sie benutzen das Geld, um den Familien zu helfen, die sich sonst an die Fürsorge hätten wenden müssen.«
»Nicht so laut, mein Junge. Der Staat würde es gar nicht schätzen, wenn herauskäme, dass ich unter seiner Nase mein eigenes Besteuerungssystem eingerührt habe.«
»Und Harry hat das entdeckt.«
»Eine höfliche Art zu fragen, was er gegen mich in der Hand hat«, sagte der Reverend. »Wenn es nur das wäre, kein Problem. Seine Leute sind um die Sicherheit dieser Stadt bemüht, aber es ist ihnen ziemlich egal, ob hier jemand den Rahm der Zolleinnahmen abschöpft. Sie haben dieselbe Ein Stellung wie ich: Die Leute haben sich, so lange man zurückdenken kann, harte Getränke eingeschenkt und Pfeifen angesteckt – und irgendjemand muss sie versorgen. Wenn ich es tue, gibt es ein paar hungrige Kinder weniger, die ihre Eltern nachts mit ihrem Weinen wach halten, weil in der Suppe mehr Wasser als Brühe war.«
»Sie hören sich müde an«, sagte Oliver.
»Verdammt, ich bin auch müde, Pilger. Das Leben in meinem Alter ist, als sei man im Krieg. Alles, was man liebt, jeder, den man kennt, alles hat man über die Jahre verloren. Ich habe sie alle überlebt – meine Frau, meine Freunde, sogar den Großteil meiner verdammten Feinde. Geblieben ist mir nur der Zorn auf die Dummheit der Welt. Auf die unnötigen Grausamkeiten, die Großspurigkeit und Eitelkeit von Leuten, die es besser wissen sollten. Die meiste Zeit will ich eigentlich nur ein bisschen Vernunft in die Welt bringen.«
Oliver wusste nicht, was er sagen sollte. Dem alten Mann zuzuhören, war, als lauschte man dem Donnergrollen am Ende eines Sturms. Allein aufgrund ihres Lebensalters lag eine breite Kluft zwischen ihren jeweiligen Standpunkten. Der Reverend hatte etwas an sich, was Oliver ein unbehagliches Gefühl vermittelte, aber er war sich nicht sicher, ob in diesem Mann selbst verborgene Dunkelheit schlummerte oder ob er nur ein Echo dessen erblickte, wie er in siebzig Jahren vielleicht selbst sein könnte.
Oben von der Treppe hörte Oliver Dampfhieb seinen Namen rufen. »Ich sollte besser gehen.«
»Dann tu das, Junge.«
Als Oliver gegangen war, warf der Reverend einen prüfenden Blick zur Treppe und schloss dann die Zimmertür. Er ging zur Fensternische, in der Oliver gesessen hatte, und hob den Deckel der Sitzbank hoch. Unter einem Knäuel aus Decken zog er dann eine kleine Holzkiste hervor. Anschließend ließ er sich auf einem Sessel nieder, balancierte den Kasten auf seinen Knien und spielte mit dem Verschluss. Was hatte ihn gerade jetzt daran erinnert? Seit Monaten hatte er nicht mehr an die Kiste gedacht, geschweige denn sie angesehen. Zu viel Gerede von der Vergangenheit. Unter allen Narren ist der alte Narr der Schlimmste. Entgegen besserem Wissen hob er den Deckel, und das Licht dessen, was die Kiste enthielt, erleuchtete die tiefen Furchen seines Gesichts. Er seufzte und stellte sie wieder weg. Dann lehnte er sich im Sessel zurück und schlief ein.
Es war ein leichter Schlaf, der Schlaf von Alter und Erschöpfung. Als Kind hatte der Reverend gelacht, wenn sein Großvater tagsüber einnickte. Es hatte komisch gewirkt. Nun tat er selbst vier oder fünf Mal am Tag dasselbe. Seine Träume waren langweilig geworden, seit Anna den Zirkel entlanggeschritten war: Er lief durch die Kirche und überprüfte, ob noch alle Kissen auf den Bänken lagen. Dann trat das Wesen von der Straße her ein. Aber es konnte doch niemand, der bei einer Tunnelgasexplosion so schwer verletzt worden war, noch leben? Das Wesen sah wie ein fleischgewordener Wasserspeier aus.
»Verdammt noch eins«, sagte der Reverend.
»Nicht ganz«, erklärte der Flüstermann. »Obwohl einer von uns vielleicht wirklich verdammt sein könnte.«
»Was im Namen des Zirkels bist du, mein Freund?«
»Du kannst mich als dein Gewissen betrachten«, zischte der Flüstermann.
»Da ist mein
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