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Das Koenigreich der Luefte

Das Koenigreich der Luefte

Titel: Das Koenigreich der Luefte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Hunt
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entdeckte Oliver einen roten Flecken an einer Flanke des Hügels, der eigentümlich unpassend wirkte, als ob jemand eine leuchtende Picknickdecke über die düsteren, braunen Hänge gelegt hatte. »Das sieht frisch aus.«
    »Ja, fürwahr ein ziemlich bizarrer Anblick hier draußen, alter Knabe.« Harry nickte. »Das wollen wir doch einmal näher betrachten.«
    Aus der Nähe erkannte Oliver, dass das Objekt nicht so einheitlich war, wie es zunächst ausgesehen hatte. Was er für eine feste, karmesinrote Binde gehalten hatte, war ein Flickwerk aus aneinandergenähten Rechtecken, überwiegend rot, aber manche trugen Streifen oder aufgenähte gelbe Sonnen. Es handelte sich um Flaggen, die von fest gedrehtem Seil zusammengehalten wurden, das dem Aussehen nach aus dem Netz eines Flussfischers stammte. Das große Stück Leinentuch lag verkrumpelt über einem Hügel.
    »Was ist das, Harry?«
    Der Wolfschnapper blickte nach Osten, die Lippen geschürzt. »Lass uns gehen, mein Junge.«
    »Was ist das? Es sieht aus wie Flaggen.«
    »Das musst du nicht wissen – lass uns einfach nach Süden gehen.«
    Oliver nahm eine Ecke des Tuchs und schlug sie hoch. Es lag eine Decke darunter, aneinandergedrängte Säcke mit … eine Gruppe wuchernder Ballons wuchs aus ihnen hervor. Das war eine seltsame Art, Pilze zu züchten. Aber dann sah Oliver die Umrisse von Beinen, Armen, Händen, einige fest ineinander verkrallt. Grundgütiger Zirkel, es war ein Baby, das sie zwischen sich festhielten, mit winzigkleinen Füßchen, wie eine Puppe – so klein und grau, dass er nicht einmal erkennen konnte, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte.
    Galle stieg Olivers. Kehle hinauf, und bevor er wusste, wie ihm geschah, spuckte er sein Frühstück ins Gras, während er auf die Familie zustolperte um nachzusehen, ob noch jemand am Leben war.
    Harry packte ihn am Arm. »Fass sie nicht an. Du kannst ihnen jetzt nicht mehr helfen.«
    »Sie leben vielleicht noch, das kann doch sein.«
    »Oliver, nein. Sie sind durch den Fluchwall gedriftet. Diese Dinger, die aus ihnen herauswachsen, stammen von den Flüchen – manchmal hören ihre Herzen auf zu schlagen, manchmal keimen Seuchensporen in ihnen, manchmal altern sie um hundert Jahre oder ihr Blut verwandelt sich in Stein. Sie starben in dem Augenblick, als ihr Ballon an Höhe verlor und sie durch den Wall trieben.«
    »Sie können doch keinen Ballon gehabt haben.« Oliver weinte. »In Quatershift gibt es keine Ballons.«
    »Sie haben kein Celgas, Oliver. Sie haben keine Aerostaten. Aber man braucht nur genug Tuch, Feuer, heiße Luft … schon hat man einen Ballon. Keinen, der reichen würde, um einen sicher über den Fluchwall zu bringen, aber woher sollten sie das wissen? Ich glaube kaum, dass auf ihrer Seite des Walls jetzt noch viele Ingenieure anzutreffen sind.«
    Oliver konnte seine Augen nicht von den menschlichen Überresten lösen – Körper, die einst gelacht, geweint, Spaziergänge gemacht und gelebt hatten, waren nun nur noch Fleischsäcke bar jeglichen Funkens, der sie einst zu Menschen gemacht hatte. Wie konnte das sein? Den einen Augenblick lebendig, voller Träume und Hoffnungen, und im nächsten nichts mehr – nur noch Kompost für einen fluchgeborenen Giftpilz.
    Oliver sank auf die Knie. »Das habe ich nicht gewusst.«
    »Ich wünschte, du hättest es auch nie herausfinden müssen«, sagte der Wolfschnapper.
    »Aber du wusstest es, Harry.«
    »Die meisten Flüchtlinge kommen auf dem Wasserweg, Oliver. Unter Wasser kann man keinen Fluchwall aufbauen. Darüber schon, darunter nicht. Und ja, so etwas habe ich schon einmal gesehen. Während der schlimmsten Hungerjahre versuchten die Flüchtlinge sogar, Katapulte zu bauen, um sich selbst über den Wall zu schießen. Es wäre beinahe witzig gewesen, wenn man nicht gesehen hätte, wie dünn die Körper waren, die auf Jackals herabregneten.«
    Olivers Kehle war wie zugeschnürt. »Warum?«
    »Warum?«, wiederholte Harry. »Für die große Idee, Oliver. Da kommt jemand mit einer großen Idee – das kann Religion sein, oder auch Politik, vielleicht die Rasse, zu der man gehört, oder die Familie, es kann eine Philosophie sein, eine Wirtschaftsrichtung, das eigene Geschlecht oder einfach nur, wie viele verdammte Guineen man in seinem Kontor hortet. Spielt keine Rolle, weil die große Idee grundsätzlich immer dieselbe ist: Wäre es nicht toll, wenn jeder doch nur genauso wäre wie ich – wenn jeder genauso dächte und handelte,

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