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Das Koenigreich jenseits der Wellen - Roman

Das Koenigreich jenseits der Wellen - Roman

Titel: Das Koenigreich jenseits der Wellen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Hunt
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musste an ein Gespräch denken, das sie vor vielen Jahren mit
ihrem Vater geführt hatte; damals hatte sie ihn gefragt, wieso so viele Nachbarstaaten danach gierten, Jackals zu erobern, das sich mit seiner einzigartigen schwebenden Marine, der KAM, und ihrem berühmten Wall aus Flugkörperleinwand jedoch erfolgreich davor schützte. Ihr Vater hatte in seiner Antwort nichts über die Mechanismen des Neids gesagt und hatte auch nicht darauf verwiesen, dass außerhalb des sorgsam ausgewogenen Gefüges von Isambard Kirkhills perfekter Demokratie der einzige Sinn der Macht darin lag, noch mehr Macht anzuhäufen. Er hatte ihr auch nicht erläutert, dass Könige, Kalifen und Kriegsherren Jackals’ zurückgezogene, zufriedene Natur als Dekadenz und Schwäche missverstanden. Er war nicht weiter darauf eingegangen, wie albern die Rituale des Hauses der Hüter, die Vierstabspiele auf dem Dorfanger oder die Krämer, die mit Pflanzkellen in ihren Rosenbeeten herumpusselten, auf die vielen Regenten wirkten, die es gewöhnt waren, Abweichler ohne weiteres aufs Rad flechten zu können. Regenten, die beispielsweise die Körper von Widerständlern in die duftenden Foltergärten des Südens integrierten oder sie in die dampfbetriebenen Mordmaschinen des Ostens schoben. Ihr Vater ging davon aus, dass sie all diese Dinge längst gelernt hatte. Daher fiel seine Antwort viel einfacher aus. »Amelia, sie mögen uns nicht, aber das kann uns egal sein.«
    Sie setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Schottwand, und die Tränen liefen über ihr Gesicht. War es das Scheitern ihrer Expedition, die Erinnerung
an ihren Vater, der ihr so viel bedeutet hatte, der Abscheu der Crew für den Jonas, der ihnen den sicheren Tod gebracht hatte, der Verlust ihrer Freunde, die, ausgesetzt im Dschungel, nun vermutlich tot waren? Hatte sie all das heraufbeschworen, nur weil sie ihren Traum verfolgt hatte? Vielleicht hatten die abergläubischen Matrosen Recht. Sie war ein Jonas. Ihr Privatleben war verflucht, ihre Karriere ruiniert. Sie war eine Ausgestoßene in der akademischen Welt, ein Witz, der in den Speisesälen der Universitäten die Runde machte. Was ist denn wohl aus Professorin Harsh geworden? Ach, das wissen Sie nicht, lieber Kollege? Gerüchteweise versuchte sie auf einer verrückten Expedition nach Liongeli vorzudringen, und dort soll sie gestorben sein, kopflos durch den Dschungel stolpernd, als ihre Wasser- und Nahrungsvorräte zur Neige gingen. Nie wieder was von ihr gehört.
    Amelia vergrub das Gesicht in den Händen. Sie hätte auf die verrückte Hexe in den Dünen von Cassarabien hören sollen. Ein wahrer Dienst wäre es gewesen, hätte ich die Sandwüste Cassarabiens das Mark aus deinen Knochen saugen lassen. Aber war es nicht besser, bei dem Versuch, den eigenen Traum zu erfüllen, zu sterben, als den Tod durch die vielen kleinen Stiche zu erleiden, die man ihr in Middlesteel zugefügt hätte? Langsam von dem Fachchinesisch und den Ritualen des akademischen Lebens erdrückt zu werden, so wie es immer gewesen war. Die festgeschriebene Weisheit. Sie versank allmählich in Schlaf. Sorgen, Ängste und Reue schwirrten durch ihre
Gedanken, und sie warf unruhig den Kopf auf dem harten Metallboden hin und her.
     
    Amelia war wieder in Jackals, in dem großen alten Haus am Mouse Place, das nach dem Selbstmord ihres Vaters verkauft worden war. Aber der große finanzielle Zusammenbruch hatte sich noch nicht ereignet. Hatte sie sich den Untergang ihres Vaters nur eingebildet? Sie saß lesend in der Bibliothek, als er eintrat. Eine Welle der Dankbarkeit überkam sie, als sie ihn sah, eine große Freude. Aber er war ja noch nicht gestorben, wieso also sollte sie so glücklich sein?
    »Amelia«, sagte er. »Was hast du mit deinen Armen gemacht? Sie sehen aus, als gehörten sie einem Metzger und nicht einer Professorin mit einem Titel.«
    »Ich musste stark sein, Vater.« Sollte sie ihm von der Ausgrabung in den Hügeln von Kikkosico berichten, als sie in den Händen von Banditen beinahe ums Leben gekommen war und geschworen hatte, sich niemals wieder so hilflos gefangen nehmen zu lassen? Nein, er hätte sich nur Sorgen gemacht. »Ich kann ein Pferd mit ihnen heben. Sie wurden nicht durch Mutterschoßmagie verändert, ich ging zu einem Weltensänger hier in Jackals und nutzte die Macht der Erde.«
    »Das macht nur einen geringen Unterschied«, sagte ihr Vater, und deutliche Missbilligung schwang in seiner Stimme mit. »Wir sollten den Zirkel so

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