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Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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oder vierten Bett schüttelte eine Krankenschwester das Kissen eines Patienten auf und murmelte etwas dazu, das vermutlich beruhigend klingen sollte.
    »Verzeihung?«, sagte ich.
    Sie wandte mir das Gesicht zu, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. »Ja?«
    »Ich suche meinen Großvater.«
    »Name?« Der starke Akzent, der ihre Aussprache verdarb, ließ auf eine osteuropäische Herkunft schließen.
    »Sein Name ist Lamb.«
    Sie sah mich so missbilligend an, als hätte ich sie gefragt, ob es im Haus eine Bar gäbe.
    »Er ist mein Großvater«, fügte ich lendenlahm hinzu.
    »Hinter Ihnen.« Sie warf mir einen letzten abfälligen Blick zu und machte sich geschäftig wieder an die Arbeit.
    Flach auf dem Rücken ausgestreckt und unempfänglich für die Welt rund um ihn herum, lag der alte Lumpensack da; seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war er um etwa hundert Jahre gealtert. Weiße Haare kringelten sich unkontrolliert aus Ohren und Nasenlöchern, und die Haut spannte sich um seine Wangenknochen. Schläuche, Drähte und metallisch glänzende Leitungen schlängelten sich von seinem Körper weg und endeten auf geheimnisvolle Weise in irgendwelchen Plastikbeuteln mit Flüssigkeit darin und einem Monitor, der in regelmäßigen Abständen diensteifrig piepste.
    Hinter dem Bett befand sich ein großes Fenster, das in dem halbherzigen Versuch, weihnachtliche Stimmung zu verbreiten, mit einer einzelnen, kümmerlichen Glitzerkette geschmückt war. Winterliche Sonnenstrahlen liefen über Großvaters Brust und brachten die feinen Staubteilchen, die in der Luft schwebten, zum Leuchten, bis sie aussahen wie Flitter.
    Ich entdeckte einen Stuhl, zog ihn mir heran und setzte mich ans Bett; augenblicklich fragte ich mich, ob ich nicht vielleicht Trauben hätte mitbringen sollen. Blumen? Schokolade? Schwer vorstellbar, dass er an etwas in der Art hätte Gefallen finden können.
    Ich versuchte, mit ihm zu reden. Soll das nicht hilfreich sein? Ich bin sicher, irgendwo gelesen zu haben, dass ein Schwätzchen – so als wäre alles ganz normal – für Menschen in seinem Zustand gut sein soll.
    »Großvater? Ich bin’s, Henry. Tut mir leid, dass ich dich schon eine ganze Weile nicht besucht habe. Im Büro herrscht Hektik. Du weißt, wie es ist, vor Weihnachten …« Aber meine Stimme klang hohl und unaufrichtig, und so verstummte ich und saß eine Zeit lang da, ohne ein Wort zu sagen; ich lauschte dem kalten Metronom der Apparaturen.
    Schließlich hörte ich, wie jemand hinter mich trat. Das Klappern ihrer hohen Absätze und der Duft des einzigen Parfums, das sie je benutzte, verrieten mir, wer es war, bevor sie auch nur den Mund auftat.
    »Armer alter Lumpensack«, sagte sie. »Jetzt tut er sogar mir schon leid.«
     
    Vermutlich finden Sie es erstaunlich, dass sie überhaupt aufgetaucht ist. Um ehrlich zu sein, ich verstehe es selbst nicht ganz. Aber zwischen den beiden ging es schon immer recht kompliziert zu.
     
    Mama schlang ihre dicken, fleischigen Arme um meine Mitte und zog mich an sich. Überrumpelt von dieser Anakonda-Umklammerung und begraben unter einem Dufttsunami, war ich plötzlich wieder acht Jahre alt – und einen Augenblick lang beinahe glücklich.
    Schweigend saßen wir neben Großvater. Ich hielt die Hand des alten Mannes, während Mama ein Rätselheft hervorholte und mit der zielstrebigen Beharrlichkeit eines Alan Turing, der sich über einen soeben eingegangenen Enigma-chiffrierten Text aus Berlin hermachte, eine ganze Seite Sudokus durchackerte. Die Stille wurde nur durch das Piepsen von Großvaters Apparaturen unterbrochen, durch das leise Tippen von Mutters Stift auf dem Papier, das gelegentliche Vorbeigehen einer Schwester und das ferne Klingeln eines Telefons. Wir sahen keine Ärzte, niemand kam, um uns zu fragen, wer wir waren oder was wir hier zu suchen hatten, und auch die anderen Patienten auf der Station gaben keinen Laut von sich, nicht das leiseste Ächzen oder Stöhnen kam von ihnen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – ein Todesröcheln vielleicht, krampfhaftes Nach-Atem-Ringen und Delirium –, aber das Geschäft des Sterbens geht stiller vor sich, als man glauben möchte.
    Seit mindestens einer halben Stunde gaben wir das unveränderte klägliche Bild ab, als im Fenster hinter meinem Großvater etwas auftauchte: erst ein roter Haarschopf, der sich in der Brise wiegte, sodann ein spitzes kleines Gaunergesicht, eine gelbe Sicherheitsjacke, ein schaumiger Wasserstrahl und die Unterseite

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