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Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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du, was mir solche Angst macht? Ich glaube, dich hat er auch verkauft!«
    »Sprichst du von Großvater?«, fragte ich.
    »Dieser Mensch«, krächzte sie, »dieser teuflische Mensch … Es war allein seine Idee!«
    »Was war seine Idee? Wovon redest du?«
    »Diese Fernsehsache … Dein Vater und ich wollten nicht, dass du es machst. Und dann – diese Operationen! Er zahlte dafür! O Henry! Einschnitte ins Gehirn!«
    Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Mama …«
    Und da beging ich einen Fehler: Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. Es war die leiseste Geste der Besänftigung, die man sich vorstellen kann, der mildeste Versuch, ihr Einhalt zu gebieten, aber meine Mutter sah das völlig anders. Sie brüllte auf vor Wut und Schmerz – bis zu diesem Augenblick hätte ich sie nicht für fähig gehalten, einen solchen Laut auszustoßen. Hätte ich meine Hand nicht so rasch weggerissen, dann, davon bin ich ehrlich überzeugt, hätte Mama sich darin verbissen.
    »Was ist denn los mit dir?« Meine Stimme zitterte. »Bitte, geh zurück ins Bett!«
    Sie bleckte die Zähne und zischte: »Leviathan trifft gleich ein. Wir müssen ihn draußen empfangen!«
    Vorgebeugt und mit affenartigen Bewegungen schoss sie an mir vorbei Richtung Haustür. Abbey tauchte auf und verstellte ihr zögernd den Weg, aber Mama schlug ihr ins Gesicht und stieß sie zur Seite.
    Abbey schrie erschrocken auf, und ich sah, dass ihre Wange blutig war.
    Mama erreichte die Tür und schloss sie in fieberhafter Hast auf, um nach draußen zu kommen. Wie vor den Kopf geschlagen berührte ich sie am Arm, und sie fauchte mir etwas ganz Entsetzliches ins Gesicht. Selbst jetzt noch bringe ich es nicht über mich, ihre Worte zu wiederholen.
    Sie riss die Tür auf, und ich sah durch die Öffnung, was sich draußen auf der Straße abspielte, was aus der Stadt geworden war. Chaos, Rauch, dichter schwarzer Schneefall. Dutzende Frauen und Männer – im gleichen Zustand wie meine Mutter –, die mit langen Schritten durch den Schnee liefen und alle in dieselbe Richtung strömten.
    Sie wirkten gar nicht mehr wie Menschen. Drohnen – so bezeichnete ich sie jetzt in Gedanken. Ferngesteuerte Drohnen.
    Mama trat auf die Straße und sog die Luft tief ein.
    »Geh nicht raus!«, schrie ich noch.
    Aber sie beachtete mich nicht. Sie stieß einen wütenden Triumphschrei aus und rannte hinaus, um sich den anderen anzuschließen, diesem Exodus der Verdammten.
    »Mama!«
    Sie drehte sich nicht um. Ich stand auf der Schwelle und wusste nicht, was ich tun sollte – ob ich ihr nachlaufen sollte, obwohl mir klar war, dass ich keinen Dank erwarten durfte. Doch ein paar Sekunden später war sie im Schneetreiben verschwunden, und damit wurde mir die Entscheidung aus der Hand genommen.
    Ich kehrte ins Haus zurück und warf die Tür hinter mir zu, gerade als Abbey aus dem Bad kam und sich ein Papiertaschentuch an die Wange presste.
    »Sie ist weg«, sagte ich.
     
    Um fünf Uhr nachmittags wurde der Bildschirm schwarz. Mit Ausnahme eines Testbilds der BBC1, das noch eine weitere halbe Stunde gesendet wurde, war auf keinem Kanal etwas anderes als Statik und weißes Rauschen zu sehen. Schnee draußen, Schnee auf dem Bildschirm – die Schwärze kroch über ganz London. Ein paar Stunden später gingen auch die Lichter aus, und wir hatten endgültig keinen Strom mehr.
    Abbey und ich krochen ins Bett; wir fürchteten uns, im Dunkeln dazusitzen, und wir waren nicht tapfer genug, uns Gedanken zu machen über die seltsamen Geräusche, die von draußen kamen – das Knistern und Trampeln, die schrillen Angstschreie, das orgiastische Gebrüll.
    Viel später, als wir aneinandergeschmiegt im Bett lagen, hörten wir das gleiche Zischeln am Briefschlitz wie in der Nacht zuvor, dieselben geflüsterten Verlockungen. Aber wir hielten einander umschlungen und verschlossen die Ohren davor.
     
    Jetzt, da ich dies hier niederschreibe, verspüre ich einen Funken Hoffnung. Sie wissen, was ich meine. Sie müssen es ja auch bemerkt haben. Die andere Schrift, diese andere Geschichte, hat aufgehört, und seit Tagen gab es keine Einschübe mehr, keine Einmischungen.
    Vielleicht wird doch noch alles gut. Vielleicht wird es für diese Reise, von der ich glaubte, sie machen zu müssen – für unser Stelldichein in der Wildnis –, keinen Grund mehr geben. Vielleicht bin ich endlich doch frei!
     
    Während Abbey und ich zu schlafen versuchten, rannte draußen ein alter Mann durch die Straßen. Damals wusste ich es

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