Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
Vom Netzwerk:
nicht, aber er war ganz in unserer Nähe, fast in Sichtweite unserer Tür.
    Seine Flucht war nicht unbemerkt geblieben, und nun war man ihm auf den Fersen – und zwar weder unauffällig noch taktvoll, denn er konnte genau hören, wie seine Verfolger hinter ihm hertrampelten und keuchten und kreischten vor schaurigem Vergnügen. Es war eine ganze Horde – dumpf und schonungslos, unermüdlich und ohne Gewissen: das neue Gesicht der Menschheit.
    Der alte Mann war müde und atemlos; seine Jahre bei der Armee lagen weit hinter ihm. Darüber hinaus war er geschwächt von den Tagen im Krankenhausbett, und es quälte ihn zutiefst, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten, wie das Drama rundum bewies. Niemand hätte ihm einen Vorwurf daraus gemacht, wäre ihm nach Aufgeben zumute gewesen. Tausend andere hätten schon längst genau das getan. Aus medizinischer Sicht hätte er nicht einmal auf den Beinen sein dürfen, aber er gab nicht auf. Er trieb seinen alten Körper immer weiter voran durch den Schnee und die Finsternis, zwang sich weit über seine körperliche Belastungsgrenze hinaus, nur um mich zu erreichen, bevor es zu Ende ging.
    Er war kaum einen Häuserblock entfernt, als sie ihn fanden – die Herde, der der Schnee den Verstand geraubt hatte, deren Blut in Wallung gebracht war vom Ampersand in den Adern.
    Jeder Atemzug brannte wie Feuer. Jeder Schritt war eine Qual. Er spürte die Meute in seinem Nacken. Fest entschlossen, seine Schritte nicht zu verlangsamen, strauchelte er im letzten Moment. Er fiel nach vorn, zerkratzte sich die alten Hände, schürfte sich die alte Haut ab und richtete sich trotz allem auf, um tapfer und unerschrocken dem Pöbel ins Gesicht zu sehen.
    Er hatte gekämpft, das weiß ich. Er hatte erbittert gekämpft bis zum Ende.
     
    Sentimentaler Unsinn.
    Wir kennen die Wahrheit. Der Alte hatte seinen schrumpeligen Schwanz in der Hand, als sie ihn sich holten. Mitten im Getröpfel schlugen sie ihn nieder, und tausend Stiefelabsätze machten seinen Körper unkenntlich, ehe er von der Armee unserer Getreuen in den Schnee gestampft wurde.
    Selbst das war natürlich weit mehr, als er verdiente.
     
    Abbey und ich erwachten im Morgengrauen, zu aufgeregt und zu verängstigt, um uns einzureden, dass wir noch weiterschlafen könnten.
    Ich zwang mich zu einem matten Lächeln. »Frohe Weihnachten!«, sagte ich.
    »Frohe Weihnachten, Henry.«
    Wir umarmten uns, und ich kletterte aus dem Bett, um Tee zu machen, als Abbey mich daran erinnerte, dass wir keinen Strom hatten. Also kein Tee. Auch keine Heizung, und so gingen wir umgehend daran, uns einige Schichten T-Shirts und Pullover anzuziehen, um die Körperwärme unter abgetragenen Unterhemden, Lieblingssweatern und alten Westen zu erhalten.
     
    Wir waren etwa zwei Stunden auf und hatten in dieser Zeit ein mageres Frühstück zusammengekratzt, uns aneinander festgehalten und uns wiederholt unserer innigen Zuneigung versichert, als es an der Tür klopfte – ein einziger harter Ton, kurz und sachlich.
    Ich lief hin, um zu öffnen. »Großvater!«
    Aber es war ein Fremder, der auf der Schwelle stand. Ein Mann, nicht viel älter als ich, schlank, blond und mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, das Haar zu frechen, mit Gel geformten Zacken aufgestellt.
    »Sie müssen Henry Lamb sein«, sagte er.
    »Und wer sind Sie?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon ahnte.
    »Ich bin Joe«, sagte er und streckte mir mit süffisanter Miene die Hand entgegen. »Joe Streater.«

FÜNFUNDZWANZIG
     
    »Joe!« Abbey stand hinter mir im Flur. »Was, zum Geier, willst du hier?«
    Der Blonde ließ sein Hollywood-Gebiss aufblitzen. »Ich will dich retten.«
    Meine Zimmerwirtin errötete. »Komm besser rein. Mach die Tür zu. Da draußen passieren Dinge, die …«
    Er hielt die Hand hoch wie ein phlegmatischer Verkehrspolizist und sagte: »Die können mir nichts anhaben.«
    »Wieso nicht?«
    Streater zuckte die Achseln. »Ist ’ne lange Geschichte.«
    Immer noch puterrot im Gesicht, sprudelte Abbey hervor: »Henry, das ist Joe. Joe – ich möchte dir Henry vorstellen.«
    Wir beide durchbohrten uns mit den Blicken, schätzten den anderen ein, taxierten einander. Der Schleier der Höflichkeit wurde brüchig.
    Zum Abschluss seiner Musterung bedachte Joe mich mit einem abfälligen Grinsen, und schon allein dafür hätte ich ihm liebend gern eins auf die Nase gegeben.
    Abbey berührte mich leicht am Arm und lenkte meine Aufmerksamkeit so von dem

Weitere Kostenlose Bücher