Das Königshaus der Monster
»Und ich glaube nicht, dass irgendetwas in meinem Leben Zufall ist. Nicht einmal dieses Haus.«
Der Augenblick heiterer Stimmung war dahin.
Abbey seufzte, drehte sich auf die andere Seite und knipste das Licht aus.
Später, als wir in der Finsternis nebeneinander dalagen, sagte sie: »Ich kann es gar nicht glauben, dass ich dich gefunden habe. Du bist meine zweite Chance, Henry. Ich wollte immer etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen. Etwas, das von Bedeutung ist. Und mit dir kann ich das vielleicht.«
Ich drückte ihre Hand, und sie drückte meine, während der Schnee draußen unaufhörlich weiterfiel und die Stadt in eine zweite Haut einhüllte, in eine zähe Schale aus Bösartigkeit und Infamie.
In der Nacht vernahmen wir seltsame Geräusche – Schreie und Stöhnen und splitterndes Glas. Einmal, kurz nach Mitternacht, drangen geflüsterte Verlockungen durch den Briefschlitz an der Tür: Zusicherungen wurden gemacht und Begünstigungen in Aussicht gestellt – als Lohn für bestimmte Dienste, für eine Anzahl kleiner Zugeständnisse.
Aber wir hielten einander fest und gaben uns Mühe, die Ohren dagegen zu verschließen, denn wir wussten, hier war unser sicherer Hafen, und das Haus zu verlassen, konnte für jeden von uns das Ende bedeuten.
Den Umstand, dass tags darauf Weihnachten war, könnte man, denke ich, als besonders bittere Ironie auffassen. Bei alldem, was letztlich vorgefallen war, hatte ich beinahe übersehen, dass eigentlich eine gewisse festliche Stimmung herrschen sollte.
Als ich aufwachte, war Abbeys Seite des Bettes leer und kalt. Ich wickelte mich rasch in den Morgenmantel und ging ins Wohnzimmer, wo ich sie auf dem Sofa vor dem Fernseher vorfand; sie hielt einen Becher mit etwas Heißem in den Händen und starrte gebannt auf die Katastrophen, die der Bildschirm offenbarte.
Sie sah nicht einmal auf, als ich eintrat. »Ganz London ist isoliert«, sagte sie. »Am Stadtrand wurden Kontrollpunkte eingerichtet. Die Leute sagen, es wurden schon Soldaten gesichtet, und die Schüsse, die sie abgeben, sind tödlich.«
Ich setzte mich neben sie aufs Sofa und drückte sie fest an mich.
»Alle sind verrückt geworden!«, rief Abbey. »Sie haben den Verstand verloren!«
Ich küsste sie sanft auf die Stirn, strich ihr das Haar zurück und flüsterte eine süßliche Banalität in ihr Ohr.
»Danke«, lächelte sie.
»Ich muss nach Mama sehen.«
Sie nickte zerstreut. »Henry?«
»Ja?«
»Was werden wir tun?«
»Wir bleiben hier«, sagte ich mit fester Stimme. »Wir bleiben in diesem Haus und sitzen es aus. Solange wir zusammen sind – solange wir hier sind –, kann uns nichts auf der Welt etwas anhaben.«
»Aber da draußen sind Menschen, um die ich mir Sorgen mache! Was ist mit denen?«
»Alles, worum ich mir Sorgen mache, befindet sich in diesen Wänden.« Es klang vielleicht ein wenig kälter als beabsichtigt.
»Du glaubst, dass dein Großvater schon tot ist, nicht wahr?«, fragte sie.
Ich ging hinaus.
Natürlich mache ich mir Vorwürfe.
Mit Mama war alles in Ordnung, als ich nach ihr sah. Sie atmete immer noch recht flach und stöhnte und murmelte vor sich hin, aber sie hatte kein Fieber und schien, wenn überhaupt, etwas ruhiger als am Vorabend.
Ich tat, was ich konnte, gab ihr Wasser, wischte ihr die Stirn ab und half ihr vor dem Mittagessen, sich wackelig auf die Toilette zu schleppen. Und ich brachte sogar die daraus entstehende Schweinerei in Ordnung.
Ich bin kein schlechter Sohn, das will ich damit sagen. Ich habe mein Bestes getan.
Abbey und ich waren gerade beim Mittagessen und teilten uns die letzten Reste vom Brot und ein wenig Obst, als wir den Schrei hörten.
In meinem Schlafzimmer war Mama fast völlig angekleidet auf den Beinen, band sich mit ruckartigen Roboterbewegungen die Schnürsenkel zu und brummelte endloses Zeug über den Schnee.
Es war ihr gelungen, den Spannteppich loszureißen und ihn zurückzuschlagen, wodurch die alten Bodenbretter darunter freigelegt wurden. Und damit hatte sie etwas Außergewöhnliches ans Licht gebracht: Auf das Holz waren in verblasster roter Farbe astrologische und magische Zeichen, Symbole und Muster hingekleckst.
»Mama?«, sagte ich, bewegte mich langsam auf sie zu und gab mir Mühe, nicht weiter darüber nachzudenken, was ich da auf dem Boden erblickte. »Was soll das alles, Mama?«
»Er hat deinen Vater verkauft! Wusstest du das? Seinem miesen kleinen Krieg zuliebe hat er deinen Papa verschachert! Und weißt
Weitere Kostenlose Bücher