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Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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Aufrichtigkeit und griff nach der TV-Fernbedienung.
     
    Auf dem winzigen Bildschirm des tragbaren Gerätes (heruntergeholt aus der Mansarde, nachdem Miss Morning den Vorgänger zertrümmert hatte) verfolgten wir die Nachrichten, als der Schrecken seinen Anfang nahm.
    Jedem einzelnen Bericht hatte die Katastrophe ihren Stempel aufgedrückt – der Epidemie von Selbstmorden, den Kirchen, Synagogen und Moscheen, die bis über die Grenzen ihres Fassungsvermögens hinaus mit Menschen gefüllt waren, den Kämpfen Nachbar gegen Nachbar, der allgemeinen blinden, hysterischen Gewalt auf den Straßen. Verwirrung führte zu Nervosität, Nervosität zu Angst, Angst zu Panik – und Panik unausweichlich zum Tod.
    Um 18 Uhr berief der Premierminister eine Dringlichkeitssitzung des Parlaments ein. Eine Stunde später empfahl die Regierung der Bevölkerung, möglichst in den Häusern zu bleiben, und riet ihr nachdrücklich, die Straßen zu meiden. Um 20 Uhr hörten wir, dass sämtliche Krankenhäuser überlastet waren, in erster Linie durch Patienten, die wie verrückt in irgendeinem Kauderwelsch durcheinanderschnatterten und bei denen es sich zu einem großen Teil um ehemaliges Klinikpersonal handelte. Um 21 Uhr wurde wohl zwangsläufig der Ausnahmezustand verhängt – und um 21 Uhr 25 klingelte bei uns das Telefon.
    Zu diesem Zeitpunkt sah ich gerade nach Mama. Sie schien sich in einer Art von Delirium zu befinden und murmelte andauernd von etwas, das aus dem All herabkommen sollte, um London zu verschlingen. Das Merkwürdige war, dass sie dabei mit einem ausnehmend fröhlichen Rhythmus in der Stimme sprach, in einem zufriedenen Tonfall, so als sehe sie dem Tod der Stadt freudig entgegen.
    Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, starrte Abbey das Telefon an – sie fixierte es so furchtsam, als könnte es sich jeden Moment auf sie stürzen und sie beißen. Ich fragte sie, warum sie nicht abhob.
    Sie biss sich auf die Lippe. »Ich habe Angst.«
    Ich griff nach dem Hörer. »Hallo?«
    Es war ein Mann, etwa in meinem Alter, schätzte ich. »Ist Abbey da?«, fragte er; die Stimme war mir unbekannt.
    Ich sagte nichts.
    »Ich möchte mit Abbey sprechen.«
    »Wie ist Ihr Name?«
    Nun hatte die Stimme einen kaum verhüllten angriffslustigen Unterton. »Mein Name ist Joe. Und Ihrer?«
    »Ich heiße Henry Lamb«, sagte ich und schmiss den Hörer auf die Gabel.
    Abbey starrte mich zitternd und mit aufgerissenen Augen an. »Wer war es?«
    »Falsch verbunden«, sagte ich; sie sah mich an, als wüsste sie, dass ich log.
     
    Ich holte Mama ein Glas Wasser und brachte sie dazu, sich aufzusetzen und zwei Schlückchen zu nehmen, bevor sie sich wieder in die Kissen sinken ließ.
    »Es passiert alles so schnell«, murmelte sie.
    »Nicht, Mama!«, sagte ich. »Versuch nicht zu sprechen.«
    Sie stöhnte leise. »Dachte nicht, dass es auf diese Weise enden würde …«
    Ihre Lider flatterten und schlossen sich. Ich küsste sie auf die Stirn, überzeugte mich, dass sie gut zugedeckt war, und ließ sie allein.
     
    Im Nebenzimmer lag Abbey bereits im Bett; sie hatte ein Herren-T-Shirt an und kaute verkrampft und nervös an ihren Nägeln. Verschämt zog ich mich bis auf die Unterhose aus und kroch zu ihr unter die Decke.
    »Wie geht’s deiner Mutter?«, fragte sie.
    »Ich weiß nicht recht«, sagte ich. »Sie ist ein bisschen durcheinander.«
    Wir wussten beide, dass ich innerlich noch nicht bereit war, mir die Wahrheit einzugestehen. Wenigstens nicht laut.
    »Sie scheint nett zu sein«, stellte Abbey fest. »Soweit ich es sagen kann.«
    »Na ja, du lernst sie nicht gerade in bester Verfassung kennen.«
    »Wahrscheinlich nicht.«
    Eine Minute lang herrschte verlegenes Schweigen.
    »Henry? Glaubst du, sind wir hier drinnen sicher?«
    »Ja, das glaube ich. Mein Großvater trug mir auf, nach Hause zu gehen.«
    »Ich habe vor einiger Zeit ein wenig über dieses Haus nachgeforscht«, sagte Abbey, mit einem Mal in Plauderlaune. »Es steht schon länger, als man glauben würde.«
    »Tatsächlich?«, sagte ich, dankbar für den Themenwechsel und glücklich über jeden Unsinn, solange er nur die Stille erfüllte.
    »Im letzten Jahrhundert, bevor das Haus in Wohnungen aufgeteilt wurde, lebte eine Wahrsagerin hier.«
    »Eine Wahrsagerin?«
    »Eine Spiritistin, ja.« Sie kicherte – und dieses Kichern zu hören, war einfach wunderbar. »Verrückt, nicht?«
    »Ich nehme an, dass in der Vergangenheit hier eine Menge düsterer Dinge passiert sind«, sagte ich leise.

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