Das Königshaus der Monster
ich Chef zu ihm. Und Sie stehen mir zu Gesicht. Also machen Sie sich nicht ins Hemd.«
Arthurs Stirn legte sich angewidert in Falten. »Was soll ich nicht machen?«
»Arthur«, seufzte Streater in offener Ungeduld. »Wir haben nicht ewig Zeit. Ihre Mutter hat mich hergeschickt, um Ihnen ein Geheimnis zu verraten.«
»Geheimnis? Was für ein Geheimnis?«
»Das Geheimnis, Arthur. Das große. Ihr ganzes Leben lang hat man Sie angelogen. Sie waren noch nicht bereit dafür, bis heute. Aber jetzt wird gleich eine ganze Menge Scheiße eine ganze Menge mehr Sinn machen.«
Arthur nahm nervös einen Schluck Tee. Immerzu sagte er sich, dass dies der ausdrückliche Wunsch seiner Mutter war (das hatte Silverman doch so gesagt, nicht wahr?), und beim letzten Ungehorsam seiner Mutter gegenüber war er fünf oder sechs Jahre alt gewesen; da hatte ihn eines seiner Kindermädchen dabei ertappt, wie er den Porträts seiner Vorfahren in der großen Halle Schnurrbärte aufmalte.
»Arthur?« Plötzlich stand Streater dicht neben ihm – unangenehm dicht neben ihm und nahe genug, dass der Prinz den Atem des Mannes riechen konnte: süßlich – ekelerregend, widerwärtig süßlich.
»Ja, bitte?«
»Jetzt waren Sie wohl eine Minute lang abwesend, Chef.«
»Ich bitte um Vergebung. Ich habe die bedauerliche Angewohnheit, mich in den Ausläufern meiner Gedanken zu verlieren.«
»Soll vorkommen.« Der blonde Mann klatschte in die Hände, und der alte Ballsaal versank in Finsternis.
»Streater! Was geht da vor sich?«
Doch der andere blieb stumm und unsichtbar in der Dunkelheit.
Allmählich merkte Arthur, dass die Finsternis nicht völlig undurchdringlich war. Am anderen Ende des Raumes flackerte ein winziges Licht.
Der Prinz ging darauf zu. Als er nahe genug herangekommen war, sah er zu seiner Überraschung, dass das Licht von einer alten Öllampe stammte. Und dann – ein Schock: Es war noch jemand im Raum. Eine Frau mittleren Alters, rundlich und mit Speckfältchen im Nacken, saß auf einem Stuhl. Ihr leicht ergrautes Haar klebte in kurzen Löckchen am Kopf, und immerwährendes Missfallen hatte sich tief in ihre Gesichtszüge eingekerbt.
»Guten Abend«, sagte der Prinz, entschlossen – zumindest für den Augenblick –, sich so zu geben, als wäre ihr plötzliches Erscheinen das Natürlichste auf der Welt. Die Frau starrte geistesabwesend ins Leere, und jetzt, da er dicht vor ihr stand, sah er, dass sie zu schimmern schien wie eine Filmfigur, projiziert auf das Hitzeflimmern über heißem Asphalt. »Madam?«, fragte der Prinz. »Was tun Sie hier?«
Draußen wurde der Sturm immer stärker; der Regen schlug gegen die Fenster, der Wind kreischte an den Steinmauern entlang auf der Suche nach einem Entkommen, doch die Frau schien nichts davon wahrzunehmen.
»Merken Sie nicht die Ähnlichkeit?« Es war die Stimme des blonden Mannes, aufreizend nah an Arthurs Ohr.
»Streater?«, sagte der Prinz. »Schalten Sie das Licht ein.«
»Kommt nicht infrage.« Er klang unerträglich selbstgefällig.
»Sie haben das herbeigeführt!«
Ein Kichern im Dunkel.
»Streater? Wer ist diese Person?«
»Herrje, Chef, machen Sie mir nicht weis, dass Sie Ihre eigene Urururgroßmutter nicht erkennen. Die Königin von England. Kaiserin von Indien. Verteidigerin des Glaubens … Alberts Eheweib. Klingelt’s schon?«
Arthur schluckte. Seine rationale Ader schrumpfe zur Größe einer Nadelspitze, doch immer noch wehrte er sich dagegen, das, was er da vor sich sah, als Wirklichkeit zu akzeptieren. »Wie ist das möglich?«, stammelte er.
»Nur die Ruhe, Kumpel. Sie ist ein Echo aus der Vergangenheit, Chef. Bloß ’ne Erinnerung, nichts weiter. Sie kann uns nicht sehen. Und wir können nicht mit ihr reden.«
» Wie kommt das zustande?«, flüsterte Arthur, seine Stimme belegt von Angst und beginnender Panik. »Was ist das alles?«
»Das«, antwortete Streater, »ist 1857. Das Jahr, in dem der Indienaufstand losbrach. Kein Wunder, dass das alte Mädchen nervlich angeschlagen ist. Kein Wunder, dass dies das Jahr war, in dem sie den ersten Schritt taten.«
»Wer tat den ersten Schritt?«
Ein dreimaliges deutliches Klopfen an der Tür.
Streater machte »Sch-sch« und flüsterte: »Passen Sie auf und Sie werden’s gleich erfahren!«
Die Tür flog auf, und ein Mann – auch dieser ein Unbekannter – schritt in den Raum: sichtlich noch keine dreißig, athletisch gebaut und ebenso anachronistisch gekleidet wie die Frau. Er hatte ansprechende
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