Das Königsmal
Augen.“
„Aber werden sie mich den König behandeln lassen?“, fragte Wiebke und dachte an Fueren und die Gräfin, die gewiss keine Behandlung mit einem Zigeunertrank zuließen.
„Pah, wie man hört, lassen sie dich oft allein mit dem Kranken. Du wirst schon einen Weg finden, um ihm zu helfen. Du musst es nur wollen.“
Mit einer Hand strich sie Wiebke das Haar aus der Stirn und zeichnete lächelnd die kleine Narbe nach.
„Das Königsmal“, murmelte sie zufrieden. „Da ist es wieder, ganz klar und deutliche. Also habe ich mich nicht in dir getäuscht.“
Dann griff sie wieder nach Wiebkes Händen und betrachtete diese.
„Bevor du dein Lebensglück erfährst, muss dieses Unglück vorbeiziehen. Die Linien in deiner Hand sind so klar, ich kann mich nicht irren. Lauf und bedenke immer, was ich dir einst sagte: Rede immer die Wahrheit und vertrau auf deinen Verstand.“
Noch einmal blickte ihr die Alte prüfend in die Hände. Doch bevor sie noch mehr sagen konnte, drang wieder ein Eulenschrei durch die Gassen, und die Fremde raffte ihre Röcke und verschwand zwischen den Häusern. Noch bevor sich Wiebke wieder gefasst hatte, war sie auf und davon. Verwirrt betrachtete sie die Steine in ihrer Hand, dann schob sie den schimmernden Schatz in die Taschen ihres Kleides.
Nur wenige Augenblicke später lief eine Gruppe Kinder lärmend durch die verwinkelte Straße und schreckte Wiebke aus ihren Gedanken auf. Sie ließ sich von dem Trubel mitreißen und stand bald auf dem Marktplatz. Menschen hasteten über das Pflaster und gingen ihren Geschäften nach. Stände mit Rüben, Kürbissen und anderem Gemüse lockten Käufer an. Glänzende Käselaibe und deftige Räucherwaren verströmten einen betörenden Duft.
Nach der Stille des Krankenzimmers erfüllte sie das städtische Treiben mit neuer Kraft. Sie fasste einen Entschluss: Sie würde der Zigeunerin vertrauen und dem König die Medizin verabreichen. Was hatte sie zu verlieren?
Doch zunächst wollte sie für die Genesung Christians beten. So öffnete sie wenig später die schwere Holztür von St. Bonifatius und schlüpfte in das Halbdunkel der Kirche. Vor dem Altar hob sie den Kopf und umfasste die beiden Steine und das Kräuterpäckchen fest. Während sich ihre Lippen zur Melodie eines vertrauten Gebets bewegten, suchten ihre Augen Halt an den hohen, schlanken Chorfenstern. Staub tanzte durch die Luft und erinnerte sie an winzige Schneeflocken, die die Stadt schon bald mit ihrem weißen Schimmer bedecken würden. Die Kinder hatten ihr erzählt, dass der König die Schlittenfahrten mit ihnen liebte und den strengen dänischen Winter jedes Jahr freudig erwartete. Er musste gesund werden – mit Gottes Hilfe. Kräftig und voll hallte ihr „Amen“ durch das Kirchenschiff.
Fueren war nicht von der Seite des Königs gewichen. Im Krankenzimmer hatte sich während ihrer kurzen Abwesenheit nichts verändert. Als Wiebke in den Raum trat, fand sie den Arzt in derselben Position vor, wie sie ihn verlassen hatte. Auf ihren fragenden Blick schüttelte er den Kopf. Er hatte nichts beobachtet, was auf eine Veränderung schließen ließ.
„Hast du dich ein wenig erholt?“, erkundigte er sich mitfühlend, als Wiebke ihren Platz wieder einnahm. „Soll ich dir etwas Gewürzwein oder eine Schale Suppe bringen lassen?“
Sie dankte ihm mit einem Lächeln und schüttelte den Kopf.
„Ich brauche nichts, geht nur.“
„Gut, dann bin ich einer Stunde wieder da. Sollte etwas geschehen, rufst du nach mir.“
Allein mit dem König, kamen die Zweifel. Sie hatte den Kräutertrank zubereitet und die beiden Steine vor sich auf das Bett gelegt. Mit den Fingern fuhr sie die Schriftzeichen nach. Was mochten sie bedeuten? Sie ließ viele Minuten verstreichen, in denen sie nur dem Atem des Königs lauschte, seine warme Hand hielt und auf ein Zeichen wartete. Ein Zeichen anzufangen. Ein Zeichen aufzugeben. Der Kräutersaft verströmte einen merkwürdig bitteren Geruch, der ihre Nase reizte.
Nichts geschah. Sie musste sich entscheiden, denn bald würde Fueren wieder am Bett stehen. Ein weiteres, mühevolles Heben und Senken der königlichen Brust gab den Ausschlag. Sie musste es tun. Vorsichtig hob sie seinen Kopf an und träufelte die Kräuteressenz in seinen Mund. Dann schob sie ihm die beiden Steine in den Nacken.
Quälendes Warten. Seine Augen blieben geschlossen, die Hand lag leblos auf der Decke. Sachte strich sie ihm seine Locke aus der Stirn und horchte auf seine Atemzüge.
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