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Das Königsmal

Das Königsmal

Titel: Das Königsmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Burseg
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Augenblick des Losgelöstseins bewunderte Christian die vollendete Harmonie dieses Bildes, das sich ihm bot. Dann ritt auch er um sein Leben.
    Er meinte, neben sich einen Mann zu sehen, mit tief in die Stirn gedrücktem Hut und blauem Mantel. Er hatte nur ein Auge und trug einen Speer in der Hand: Odin selbst, der wilde Jäger, floh. Das Kriegsglück hatte sich gegen ihn gewandt. Und Christian hatte plötzlich das Gefühl, das sich sein großer, guter protestantischer Gott schon lange von ihm abgewandt hatte, auch wenn er ihm immer wieder einen Schutzengel sandte. Er hatte es nur nicht erkennen wollen.
    Am 27. August um fünf Uhr am Nachmittag endete der Feldzug des Dänenkönigs – das deutsche Abenteuer. Es dauerte nicht lange, bis die Flüchtenden Tillys Heer singen und jubeln hörten. Ein Teil von Christians Reiterei versuchte, beim Schloss von Lutter standzuhalten, aber da sie vom Hauptheer, mit dem auch der König geflohen war, verlassen waren, ergaben sich alle noch am selben Abend. Die Zahl der Gefangenen wurde auf zweitausendfünfhundert geschätzt, die der dänischen Gefallenen auf sechstausend. Die Äcker waren mit Toten bedeckt, Christian hatte mehr als die Hälfte seines Heeres verloren. Er hatte seine ganze Artillerie zurückgelassen und war glücklich, selbst mit dem Leben davongekommen und der Gefangenschaft entronnen zu sein. Noch viele hundert Jahre später sollte es heißen, der Erdboden bei Lutter verdanke seine rote Farbe dieser gewaltigen Schlacht.
    Als die Nacht hereinbrach und sich die Sieger, erschöpft und berauscht von ihrem Triumph und den anschließenden Plünderungen, Bier und Wein hingegeben hatten, wagte sich König Christian mit Buchwald und einigen weiteren Männern zurück aufs Schlachtfeld. Sie fanden Marquard Penz, der bislang unverwundbar erschienen war, der im Schwedenkrieg so viele Feinde niedergestreckt hatte, in seinem Blut. Sie fanden General Fuchs, Christians Freund und Ratgeber. Ein Barbar hatte ihm die Augen ausgestochen, als ob sie kostbare Trophäen wären. Sie fanden den jungen Philipp von Hessen, fast unkenntlich durch die Schwere seiner Verletzungen. Sie fanden Sigward Pogwisch, eine Kugel im Herzen, friedlich – fast als schliefe er. Sie fanden den unbekannten Reiter, der sein Leben für Christian geopfert hatte und dessen Blick ihn jetzt anklagte. Sie strichen seine Augenlider herunter, damit er Ruhe finden konnte.
    Man ist nie darauf vorbereitet, so viele Tote zu sehen, dachte Christian. Doch er zwang sich, lange hinzusehen. Er nahm Abschied von seinen Männern, Abschied von seinen Träumen. Einige Schwerverletzte, die sie fanden, luden sie auf einen Karren, den sie mitführten. Vielleicht konnten ihnen die Feldchirurgen noch helfen. Dann brachen sie im Morgengrauen nach Wolfenbüttel auf, um die Flucht vorzubereiten.
    Wiebke war schon den ganzen Tag von Unruhe erfüllt gewesen. Ein seltsames Gefühl, das ihre Gedanken beherrschte. Nichts wollte ihr gelingen, die Arbeit ging ihr nur mühsam von der Hand, und selbst den Kindern gegenüber konnte sie nicht die Geduld aufbringen, die sie ihnen sonst so großzügig schenkte. Kein Spiel fiel ihr ein und keine Geschichte fesselte die Kleinen.
    Am Abend waren die Geschwister nur unter lautem Protest zu Bett gegangen, und sie hatte große Mühe, Ruhe einkehren zu lassen. Immer wieder trippelten nackte Füßchen über das Parkett, und ein trotziger Mund behauptete, eine böse Fee oder eine schreckliche Hexe lauere in einem dunklen Winkel des Raumes. Erst als Wiebke versprach, ein Licht brennen zu lassen und sofort hereinzukommen, falls sie das Rascheln des Hexenbesens oder eines Feengewands hören sollte, kam der Schlaf.
    Erschöpft wartete Wiebke noch eine Weile im angrenzenden Spielzimmer. Sie räumte die Zinnsoldaten in eine hölzerne Schachtel und wollte sie auf einen Tisch stellen, als sich der Deckel löste und sich die Figuren wieder auf den Boden ergossen. Beim Blick auf die wild verstreuten Spielzeugsoldaten durchfuhr sie ein Schauer. Sie liegen da wie tot, dachte sie. Im nächsten Moment schalt sie sich wegen ihrer albernen Angst. Was sagte ihr Vater immer in seiner sorglosen, breiten holsteinischen Bedächtigkeit? „Nu mal mol nich den Düvel an de Wand, Deern.“
    Trotzdem wollte das Gefühl drohenden Unheils nicht weichen. Nachdem sie auch Madame für die Nacht versorgt, das lange Haar mit Sorgfalt gebürstet und Mücken und anderes Getier, das im Kerzenlicht an den Wänden tanzte, hinaus in die Nacht

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