Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
Vom Netzwerk:
Stimme voller Angst und gleichzeitig Begeisterung, eine Stimme voller Dringlichkeit und Drohung. Eine Stimme schließlich, die mich in eiskalte Furcht hüllte.
    Es begann mit Worten, die ich nicht wirklich verstand. Seltsame Worte, sicher mit Hintersinn, die ich nicht vergessen kann. Ich erinnere mich an jedes Wort, ganz genau, ohne sie damals jedoch verstanden zu haben. » Transkranielle Augen, 88, die Zeit des zweiten Boten ist gekommen. Heute die Zauberlehrlinge im Turm, morgen unsere mörderischen Väter im Bauch, unter 6,3.«
    Im Laufe meines Lebens habe ich häufig Sätze gehört, die keinen Sinn zu haben schienen. Mein Psychiater hatte mir mehrere Male erklärt, diese Art sinnloser Sätze, diese Beeinträchtigungen des logischen Denkens, seien eine ›normale‹ Begleiterscheinung meiner psychotischen Störungen. Aber dieses Mal verhielt es sich anders. Es lag etwas Dunkleres, Bedrohlicheres in der Luft. Vielleicht im Tonfall der Stimme. Und es war keineswegs so, dass der Satz sinnlos gewesen wäre, er schien vielmehr einen Hintersinn zu haben, der mir vollkommen entging. Eine Wirklichkeit, die ich nicht erfassen konnte, die aber eine geheimnisvolle Kohärenz verbarg.
    Dann waren da noch weitere Worte. Und dann erfasste mich die totale Panik.
    Die Stimme war für einige Augenblicke verstummt, dann ertönte sie erneut, noch ernster, und verkündete: »Das ist es. Er wird in die Luft fliegen. Alle werden in diesem verdammten Glasturm sterben. Für die Sache. Für unsere Sache. Und sie werden es wissen. Alle werden verrecken. Er wird in die Luft fliegen.«
    Seit Jahren versuchte ich, die Stimmen in meinem Kopf zu ignorieren, ihnen keine Bedeutung mehr beizumessen. Aber an jenem Tag, ohne dass ich erklären könnte, warum, bekam ich Angst und glaubte die Worte, die ich vernahm. In meinem tiefsten Inneren war ich überzeugt, dass sie wirklich waren. Sehr wirklich. Ich begriff, dass sie nicht logen, dass der Turm tatsächlich in die Luft fliegen würde.
    Daraufhin ergriff ich die Flucht. Ohne zu warten, ohne zu überlegen. Ich rannte so schnell wie möglich, als ob ein Heer von großen Dämonen mich verfolgte. Die Menschen schauten mich verwundert an. Einige, wie der Wachmann des Turms, wussten vielleicht, dass ich zu den Irren gehörte, die von Doktor Guillaume behandelt wurden, und beachteten mich nicht.
    Als die Bomben hochgingen, befand ich mich ungefähr dreißig Meter vom Turm entfernt, mehr nicht. Aber das genügte, um mir das Leben zu retten. Die Wucht der Explosion schleuderte mich zu Boden. Ich war verblüfft, verwundert, schockiert, aber lebendig. Lebendig.
    Und am nächsten Tag, nachdem ich eine ganze Nacht im weißen Wohnzimmer meiner Eltern verbracht und wie gebannt auf den Bildschirm gestarrt hatte, erinnerte ich mich plötzlich an diese Sätze. An die Stimme, die mir das Leben gerettet hatte. »Transkranielle Augen, 88, die Zeit des zweiten Boten ist gekommen. Heute die Zauberlehrlinge im Turm, morgen unsere mörderischen Väter im Bauch, unter 6,3.«
    Und ich begriff, dass sich alles verändern würde.
    Denn schließlich hatte ich sie gehört, diese seltsamen Worte. Auch wenn das noch so unglaublich schien. Ganz und gar unmöglich! Wenn ich jetzt lebendig auf dem Sofa saß, dann deshalb, weil ich sie gehört hatte, nicht wahr? Und wenn diese Stimmen in meinem Kopf mich vor dem Attentat bewahrt hatten, wenn sie mir ermöglicht hatten, ein paar Sekunden vor dem verhängnisvollen Augenblick zu fliehen … Wie soll man es erklären?
    Ich saß erschöpft auf dem Sofa und hatte Mühe, mich zu dem durchzuringen, was ich gerade gedacht hatte. Ich wagte es nicht zu formulieren. Es zuzugeben. Ich hatte mich seit so langer Zeit hinter der Gewissheit meiner Krankheit verschanzt, dass ich sie nicht plötzlich von neuem leugnen konnte. Nein. Es waren Auswüchse meines kranken Gehirns. Einfach nur Lügen. Halluzinationen. Und doch … Das Attentat hatte ich nicht geträumt. Es wurde auf allen Bildschirmen der ganzen Welt gezeigt. Die Verletzungen auf meiner Stirn und an meinen Händen hatte ich nicht erfunden. Ich hatte in der Halle des Turms gestanden, und die Stimmen hatten mir befohlen zu fliehen. Hatten mir das Leben gerettet. Das war die Wahrheit. Objektiv. Nicht mehr und nicht weniger. Ich musste den Mut aufbringen, die Wahrheit zu sagen, die Kraft haben, sie zu akzeptieren. Das in Frage zu stellen, woran ich solange geglaubt hatte. In Frage zu stellen, womit ich mich nur schwer hatte abfinden können.
    Es

Weitere Kostenlose Bücher