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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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die eine Verbindung zwischen den verschiedenen Behauptungen meiner Überlegung herstellten. Die Konjunktionen. Stimmen in meinem Kopf haben mir gesagt, dass das Gebäude in die Luft fliegen würde. ALSO rannte ich aus dem Gebäude, das explodierte. ALSO waren diese Stimmen keine Halluzinationen. ALSO bin ich nicht schizophren.
    Gelegentlich stieß ich Schreie der Wut oder der Angst aus. Ich erhob mich zitternd und ging durch die Wohnung meiner Eltern, während ich an den Nägeln kaute. Aber wenn ich nicht schizophren bin, was bin ich dann, Herr Doktor?
    Dann setzte ich mich wieder und verharrte stundenlang in einer vertrauten Apathie.
    Also, also, also. Was zu beweisen war. Verdammtes WZBW ! Ich drehte mich im Kreis.
    Später, als ich mich wieder beruhigt hatte, versuchte ich, die Dinge zu ordnen. Ich schrieb mehrere Male das Datum und die Stunde des Attentats auf, dann verglich ich sie in meinem Terminkalender und mit meinem Termin bei Doktor Guillaume. 8. August, 8 Uhr. Das passte zusammen. Ich starrte das Metroticket an, das immer noch in meiner Tasche steckte. Die Stunde und das Datum der Entwertung bewiesen sehr wohl, dass ich unterwegs zu Doktor Guillaume war. ALSO war ich im Augenblick der Explosion dort. Also, also, also.
    Ich studierte meine Hände. Waren diese Verletzungen echt? Ich erhob mich, ging ins Badezimmer, hielt sie einen Moment unters Wasser. Das Waschbecken färbte sich rot. Ich war wirklich verwundet. Das war echtes Blut. Klebrig.
    Ich war nicht schizophren, ich war nicht schizophren, nein, nein, nein. Alles passte zusammen.
    Im Grunde wünschte ich mir, dass es nicht so wäre. Ich hätte es vorgezogen, die Gewissheit zu haben, Opfer einer neuen Halluzination zu sein. Der gute alte ›Vigo Ravel, sechsunddreißig, schizophren‹ zu sein. Ganz einfach. Aber alles passte zusammen.
    Das Problem bestand darin, dass die Wirklichkeit viel beängstigender war als eine Halluzination. Es gelang mir nicht, ganz sicher zu sein. Gewissheit zu bekommen. Wie stellte man es an, Gewissheit zu bekommen? Dazu musste man ein reines Herz haben. War meines etwa nicht rein? War es befleckt? Ein beflecktes Herz? Und mein Kopf? Geistig gesund. Der gesunde Geist. Der heilige Geist? Die geordneten Ideen. Die nicht geordneten? Unordentlichen. Die unordentlichen Ideen. Etwas zu sehr verschroben, die Ideen. Bewegen Sie sie nicht, die Ideen. Sitzend, liegend. Die auditiven Halluzinationen, Monsieur Ravel, entsprechen einer funktionalen Erhöhung der Sprachbereiche im linken Stirn- und Schläfenbereich des Gehirns. Ein langsames Gehirn. Ein Papierdrachen. Sehr hoch. Weit über dem Durchschnitt. Achtung vor dem Fall. Das ist meine eschatologische Angst. Der Homo sapiens ist im Begriff auszusterben. Aussterben. Er strebt nach sterben. Das ist nicht erstrebenswert.
    Gegen Mittag glaubte ich, dass ich kein Auge zugetan hatte, und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf. Von Zeit zu Zeit wurde ich von Angstattacken geweckt und wachte am Nachmittag schweißgebadet auf. Ich hatte vergessen, den Fernseher auszuschalten. Aber mein Blick war getrübt, und es gelang mir nicht, die Bilder scharf zu sehen. Ich rieb mir die Augen. Nichts zu machen.
    Ich sprang mit einem Satz vom Sofa, ging ins Bad und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Ich betrachtete mich im Spiegel. Mein getrübter Blick normalisierte sich wieder. Vigo! Denk nach, überleg! Nimm dich zusammen. Das alles ist nur eine riesige Halluzination. Eine schwere Krise, mehr nicht. Du hast am Montag deine Neuroleptikaspritze verpasst, das ist alles. Du läufst aus dem Ruder, du Schizo. Du kleiner verdammter Scheiß-Schizo!
    Ich hämmerte mit der Faust auf das Waschbecken, öffnete das Medizinschränkchen und schluckte zwei Tabletten Leponex gegen die Halluzinationen und zwei Depamide zur Stimmungsaufhellung. Ein erprobter Cocktail für meine schlimmsten Krisen. Nach wenigen Minuten würde er seine Wirkung zeigen.
    Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, befragte gerade ein Journalist, der auf meinem Sofa saß, einen Verantwortlichen des Sicherheitsdienstes von La Défense. Ein strenger Typ. Ich nahm mir noch eine Zigarette und setzte mich neben sie.
    »…   die Behörden sprachen in ihrer letzten Pressekonferenz bereits von über tausenddreihundert Toten. Weiß man genau, wie viele Personen sich zum Zeitpunkt der Explosion im Turm aufhielten?«
    »Es ist noch zu früh, um Genaues zu sagen. Im August sind die Büros nicht so besetzt wie sonst. Aber im Allgemeinen kommen im Sommer

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