Das Kopernikus-Syndrom
mindestens zweitausend Personen am Morgen hierher.«
»Könnten es Ihrer Meinung nach zweitausend Opfer werden?«
»Ich kann es im Augenblick nicht genau sagen. Wir hoffen nur, dass es so wenig wie möglich sind, und wir fühlen mit den Familien.«
»Wer befand sich im Augenblick der Explosion im Turm?«
»Das Personal des Turms und hauptsächlich Büroangestellte.«
»Wie viele Gesellschaften sind im SEAM-Turm untergebracht?«
» Ungefähr vierzig –«
»In welchen Branchen?«
»Da ist in erster Linie der Gesellschaftssitz der SEAM, der Eigentümerin des Turms, einer europäischen Rüstungsfirma. Aber das Unternehmen vermietet auch Räume an andere Gesellschaften. Hauptsächlich an Privatunternehmen. Eher Dienstleistungsfirmen, Versicherungen, Softwareentwickler und derartige Firmen …«
Ich runzelte die Stirn. Hauptsächlich Privatunternehmen? Und was war mit der riesigen Praxis in der ganzen letzten Etage, in der Doktor Guillaume, mein Psychiater, arbeitete? Die Praxis Mater? Warum erwähnte er sie nicht?
Doktor Guillaume … Sein Gesicht erstand vor mir, und die beiden anderen verschwanden von meinem Sofa.
Ach, wenn er nur hier gewesen wäre, mein Psychiater. Er hätte mich beruhigen können. Er hätte mir geholfen, mich zurechtzufinden, meine Halluzination zu erkennen und nicht vor mich hin zu dämmern. Und dann würde ich wieder zum Schizo – wie alle anderen. Ein netter kleiner Schizo. Doch man musste sich den Tatsachen stellen. Doktor Guillaume war vermutlich unter den Trümmern begraben worden, verkohlt. Und ich war somit alleiniger Richter meiner Wirklichkeit, allein, allein, allein.
Ich schloss die Augen und stellte mir den verkohlten Körper meines Psychiaters vor. Es gelang mir nicht, das traurig zu finden, ich fand es eher dramatisch. Ganz egoistisch überlegte ich mir, wie man an meine medizinischen Unterlagen gelangen könnte. Wie konnte man meine Diagnose revidieren, wenn all das fehlte, was der Psychiater fünfzehn Jahre lang notiert hatte? Ich verdrängte diesen Gedanken. Es war unschicklich, an meine Unterlagen zu denken, während der arme Doktor Guillaume sicher tot war. Ein kleiner Haufen Asche. Mir wurde plötzlich bewusst, dass meine Eltern am Boden zerstört sein würden, wenn sie vom Tod des Psychiaters erfuhren.
Meine Eltern … Wieso hatten sie mich noch nicht angerufen? Sie wussten doch, dass ich jeden Montagmorgen in dieses Gebäude ging. Vielleicht hatten sie noch gar nichts von dem Attentat gehört? Sie brachten es durchaus fertig, während ihrer Ferien in dem kleinen Haus, das sie an der Küste mieteten, mehrere Tage lang weder fernzusehen noch Zeitung zu lesen. Zu dieser Stunde schlürften sie bestimmt in aller Ruhe ihren Cocktail am Rande des Pools, ohne auch nur eine Sekunde lang zu ahnen, dass ihr Sohn dem schlimmsten Attentat entkommen war, das sich jemals in Frankreich ereignet hatte.
Um es gleich zu sagen: Mein Verhältnis zu meinen Eltern Marc und Yvonne Ravel war nicht sehr herzlich. Doch sie schienen sich auf jeden Fall für mein Schicksal zu interessieren, auf ihre Art eben. Das reichte aus, dass sie mich bei sich wohnen ließen und mich dazu bewegten, einmal pro Woche Doktor Guillaume aufzusuchen. Sagen wir, unser Verhältnis war durch Achtung und Freundlichkeit geprägt. Sie kümmerten sich um mich, ohne sich über mein psychologisches Handicap zu beklagen, aber auch ohne mir übermäßige Zuneigung zu zeigen. Keine Leidenschaft. Die Tatsache, dass ich keinerlei Erinnerung an meine Kindheit und an meine Jugend hatte, erleichterte die Sache nicht. Weder für sie noch für mich. Wir kannten keine guten gemeinsamen Erinnerungen, Ferien, Feiern, Familienfeste … Ich erinnerte mich an nichts und hatte das Gefühl, anders zu sein als sie. Fast ein Fremder.
Ich würde gern ausführlich über meinen Vater, meine Mutter reden, aber ich habe allen Ernstes das Gefühl, sie nicht zu kennen. Das ist furchtbar: Ich kann nicht einmal sagen, wie alt sie sind. Ich weiß nichts über ihre Vergangenheit, über ihre Kindheit. Ich weiß nicht, wie sie sich kennengelernt haben, auch nicht, wo und wann sie geheiratet haben, all die Dinge, die Kinder wissen und die sie eines Tages verstehen.
Im Alltag hatten wir definitiv wenig miteinander zu tun. Ich hatte im Grunde genommen mit niemandem viel zu tun. Abgesehen von meinem Chef und meinem Psychiater, aber das waren ja gewissermaßen nur berufliche Kontakte.
Am Wochenende fuhren meine Eltern ins Département Eure. Ich
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