Das Kopernikus-Syndrom
gab nämlich keine andere Erklärung, keine andere mögliche Überlegung. Ich hatte überlebt, weil die Stimmen in meinem Kopf keine Halluzinationen waren.
Ja, wenn ich überlebt hatte, konnte das nur eines bedeuten. Ich war nicht schizophren. Ich war … Ich war etwas anderes.
11.
Moleskin-Notizbuch,
Anmerkung Nr. 103: der andere
Es gibt mich. Es gibt Sie. Es gibt sie.
Es gibt mich, der ich schreibe, und es gibt Sie, der Sie vielleicht lesen. Aber diese Worte sind nicht ich. Sie lesen nicht mich. Überlegen Sie: Ich bin unzugänglich. Und ich sage das nicht, um mich aufzuspielen. Es ist so, es liegt in der Natur des Menschen.
Verstehen Sie mich? Nein. Können Sie in mein Inneres sehen? Noch weniger. Auch ich kann nicht in Sie hineinsehen, hier, jetzt. Versuchen Sie es nicht. Wir werden für immer Fremde bleiben.
Der andere. Ich musste sicher sein. Ich habe in den Wörterbüchern gesucht. Und ich sehe, dass dieses Wort auch ihnen Probleme bereitet. Gewöhnlich kann man ihnen vertrauen. Aber hier, wenn es um den anderen geht, beißt man sich die Zähne aus. Das Wörterbuch bringt auch nicht viel weiter.
Der andere: Pronomen (der Selbstlose, 1080; Ableitung von der andere) Ein anderer, die anderen Menschen, s. der Nächste.
Sie sind seltsam! ›s. der Nächste‹! Weniger genau kann man kaum sein. Das kann nicht wirklich beruhigen. Man muss sich an die Philosophie wenden, um weniger Angst zu haben. Im Lexikon von Armand Colin gibt es so etwas wie Trost:
Der andere: I. Allgemein: der andere wie ich, der nicht ich ist, als Korrelativ des Ich. 2. Phil. Bei Rousseau: der andere bezeichnet meinen Artgenossen, d. h. jeden Menschen, der lebt und leidet, mit dem ich mich in der privilegierten Erfahrung des Mitleids identifiziere. Bei Hegel: der andere: unanfechtbare Gegebenheit als soziale und historische Existenz, steht in einem intersubjektiven Verhältnis, das konstitutiv für jedes Gewissen ist, sogar in seinem plötzlichen Auftauchen …
Unanfechtbare Gegebenheit … Hegel sagt das, um Freude zu bereiten.
Es gibt keine größere Einsamkeit als die gegenüber den anderen.
Diese Einsamkeit ist anstrengend. Allein, allein, allein, ich bin allein. Ich bin allein. Manchmal beneide ich die anderen. Aber was soll's?
Der andere ist ein Geheimnis und ein Widerspruch. Er ist seit jeher der Erzeuger all meiner Qualen. Verstecken Sie sich nicht. Es ist nicht unbedingt Ihr Fehler. Es ist einfach so. Und auf jeden Fall bin ich nur durch Sie.
Denn so ist es: Der Homo sapiens kann nicht allein existieren. Er braucht einen Vater und eine Mutter, um das Licht der Welt zu erblicken. Wir sind nur das Erzeugnis eines anderen. Und diese Abhängigkeit lässt uns nie los. Sie ist überall. Die Sprache, die Kultur … alles kommt von den anderen. Wir sind ständige Erben.
Und doch bleibt der andere immer unzugänglich. Ich sehe den Körper des anderen, aber ich sehe nie seinen Geist. Nie sehe ich seine Seele, sein Inneres. Und meine Deutung des anderen ist zwangsläufig ungenau, genauso ungenau wie Ihre Deutung von mir.
Solange der andere ein anderer bleibt, sind wir die Opfer einer ewigen Unkommunizierbarkeit. Auch wenn wir es noch so sehr versuchen.
Die Erfindung der Sprache ist das beste Eingeständnis unserer Unfähigkeit, uns zu verstehen.
12.
Im weißen Wohnzimmer meiner Eltern verbrachte ich den ganzen Tag damit, mir diesen Satz immer wieder durch den Kopf gehen zu lassen. Ich bin nicht schizophren, ich bin etwas anderes. Wie um mich davon zu überzeugen. Und das verängstigte mich schrecklich. Auch wenn die Angst eine alte Begleiterin war, hatte sie an jenem Tag einen Beigeschmack, den ich nicht von ihr kannte und der mir ins Herz schnitt.
Seit dem Attentat waren vierundzwanzig Stunden verstrichen. Ich versuchte, klarzusehen und mich zu beruhigen. Die üblichen Entgleisungen meines logischen Denkens wieder in Ordnung zu bringen. Die Schwachstellen.
Paranoide Schizophrenie. Das Subjekt kann davon überzeugt sein, dass übernatürliche Kräfte seine Gedanken und Handlungen beeinflussen.
Während ich meine Camel rauchte, schrieb ich wie besessen alles auf, um den Faden nicht zu verlieren. Die Asche fiel auf das Papier, ich machte mir nicht mal die Mühe, sie wegzuwischen. In Kürze hatte ich Hunderte von Seiten beschrieben, die ich um das Sofa herum auf den Boden warf und die sich wie im Herbst die Blätter am Fuße eines Baumes auftürmten. Ich machte Skizzen, Zeichnungen.
Ich unterstrich wichtige Sätze, solche,
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