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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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müssen. Ich lehne den Gedanken an den Tod ab, mein ganzes Wesen lehnt ihn ab. Insgesamt. In meinem Kopf dröhnt es, aber schließlich schlafe ich ein, das ist die beste Möglichkeit, ihm zu entgehen.
    Ich lebe, ich bin lebendig, und es ist nicht möglich, dass das aufhört.
    Es heißt, in unserer Gesellschaft – Westen, 21. Jahrhundert –, in der Zeit der Heuchelei, sei der Tod ein Tabu geworden, und da wir ihn nicht mehr wahrnehmen wollen, jagt er uns schließlich so viel Angst ein. Aber wie könnte mir der Tod eines anderen helfen, meinen eigenen zu akzeptieren?
    Man erlebt den Tod der anderen nicht, man stellt ihn einfach fest. Der Tote ist ein Ding, das verschwindet. Aber ich bin kein Ding, ich bin ein Subjekt, verdammt! Man muss vergleichen, was vergleichbar ist. Ich bin ein Subjekt. Nicht wahr? Ich weiß nicht, weshalb ich Sie frage. Wie sollten Sie es wissen? Ich bin nur für mich selbst ein Subjekt.
    Nun, meine Befindlichkeit wird nicht durch den Tod des anderen in Mitleidenschaft gezogen, die Todeserfahrung ist nicht übertragbar, folglich wird kein Todesfall mich dazu bringen, meinen eigenen Tod zu akzeptieren. Im Gegenteil, der Tod der anderen erinnert mich an die Fatalität dessen, was mich erwartet, ohne mir zu erlauben, dass ich an meinen eigenen Tod denke, und schon gar nicht, dass ich ihn akzeptiere. Wie soll man sich auf etwas vorbereiten, das man nicht erleben kann? Ich kann mir meinen Tod nicht in Analogie zum Tod der anderen vorstellen. Denn mein Tod ist einmalig, nicht mittelbar, und ich werde der Einzige sein, der ihn erfährt.
    Mein Tod ist nicht zu beobachten, denn wenn er eintritt, lebe ich nicht mehr. Bin ich nicht mehr. Nichts. Nicht einmal dieses große Nichts, das wir vor unserer Geburt waren, denn da waren wir noch eine Potenzialität. Aber danach?
    Der Tod beinhaltet einen Grad an Einsamkeit, der noch größer als das Leben ist. Als ob das nicht schon genug wäre.
10.
    Einen Tag nach dem Anschlag auf den SEAM-Turm konnten die Journalisten immer noch keine genauen Angaben machen. Vermutlich seien es über tausend Opfer, sagten sie. »Aber die offizielle Bilanz wird sich wohl in den nächsten Stunden noch dramatisch erhöhen; bleiben Sie auf unserem Sender.« Als Einziges wiederholten sie stets die Nachricht, dass es keine Überlebenden gebe, weil das Erdgeschoss in die Luft gegangen und es nicht mehr möglich gewesen sei, die Menschen vor dem Einsturz des Turms in Sicherheit zu bringen.
    Das war nicht ganz richtig, denn es gab ja noch mich.
    Aber ich war der Einzige, der das wusste. Wie ich auch der Einzige war, der wusste, warum. Weshalb ich der Explosion entgangen war.
    Und genau dieser Grund war nicht stimmig, er änderte alles. Und er erfüllte mich jetzt, als ich auf dem weißen Sofa meiner Eltern saß, mit Panik. Denn ich wusste, dass niemand mir glauben konnte und dass ich sehr stark sein musste, um mir selbst zu glauben. Ganz allein.
    Heute Morgen, am Tag des Attentats, hatte ich kurz nach 8 Uhr in der Eingangshalle des SEAM-Turms gestanden. Ich hatte meinen wöchentlichen Termin im 44. Stock, in der Praxis Mater, in dem Ärztezentrum, in dem der Psychiater seine Praxis hat, der mich seit jeher betreut. Es handelt sich um Doktor Guillaume, nach Aussagen meiner Eltern der beste Spezialist in ganz Paris. Jede Woche spritzte er mir meine Neuroleptika mit Langzeitwirkung, was mir die tägliche Pilleneinnahme ersparte, und verfolgte die Entwicklung meiner Krankheit.
    Ungefähr fünfzehn, höchstens zwanzig Sekunden bevor die Bomben hochgingen, während ich in der Eingangshalle des Turms auf den Aufzug wartete, geschah etwas, das mich dazu trieb, fluchtartig das Gebäude zu verlassen. Etwas Ungewöhnliches, das sicherlich niemand glauben würde.
    Ich bekam nämlich genau in diesem Augenblick einen epileptischen Anfall. So nannte das zumindest mein Arzt. ›Vorübergehende epileptische Anfälle‹, die zu ›Wahnzuständen‹ führten. Migräne, Gleichgewichts- und Sehstörungen. Anzeichen, die jedes Mal das Auftreten meiner auditiven Halluzinationen ankündigen. Aber dieses Mal war es anders. Ich hörte in meinem Kopf eine ungewohnte Stimme. Und ich weiß jetzt mit Sicherheit, dass es nicht irgendeine Stimme war.
    Es war die Stimme eines der Bombenleger.
    Ich gebe mich keiner Illusion hin: Man wird es meinem Wahnsinn zuschreiben, meinem Verfolgungswahn. Und doch bin ich mir ganz sicher, es war die Stimme eines Terroristen. Sie war da. Wie ein Murmeln in meiner Gehirnwindung.
    Eine

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