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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Mann, der ich früher war, in der Sekunde gestorben, in der die Uhr kaputtging, im Augenblick des Attentats, und dann war es gut so. Ich war offensichtlich noch nicht bereit, wieder zu leben. Mich wieder zu inkarnieren.
    Ich machte kehrt, ging in das Viertel zurück, in dem Reynalds Wohnung lag, und landete zum Essen schließlich in einem irischen Pub, ganz in Holz und grün gestrichen.
    Die Bedienung, eine echte Britin mit roten Wangen und hellen Haaren, hieß mich lächelnd willkommen. »Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte sie mit einem köstlichen Akzent.
    Ich überflog die Speisekarte und bestellte ein Bier und jacket potatoe & cheese , um nicht aus der Rolle zu fallen. Ich setzte mich in eine dunkle Nische hinter eine Wand aus alten nachgemachten Bierfässern, aß und schaute mir aus den Augenwinkeln auf einem Bildschirm an der Wand gegenüber die Aufzeichnung eines Rugbyspiels an. Diese fremde Welt amüsierte mich. Schließlich befand sich die Promenade des Anglais ganz in der Nähe …
    Als die Bedienung meinen leeren Teller abräumte, entschloss ich mich, etwas zu versuchen: »Entschuldigen Sie bitte, kennen Sie Gérard Reynald?«
    Sie runzelte die Stirn.
    »Sind Sie von der Polizei?«
    »Journalist«, log ich. »Hat die Polizei Sie schon befragt?«
    »Nein, niemand. Aber das ist doch diese Typ, den sie letzte Woche verhaftet haben, nicht wahr?«
    Ich stimmte zu. Ihre Art, das ›R‹ auszusprechen und ihre falschen Artikel waren wirklich charmant.
    »Er kam manchmal her, ja. Aber wir haben uns nie wirklich unterhalten … Ich kann nicht glauben, dass er ein Attentäter sein soll. Er wirkte wie ein seriöser Mann. Als ich sein Foto im Fernsehen sah, konnte ich meinen Augen nicht trauen.«
    »Kam er allein hierher?«
    »Ja. Er war immer allein. Wie Sie setzte er sich hier in die Ecke. Er war nicht sehr gesprächig. Er war schüchtern …«
    »Ist Ihnen nie etwas an ihm aufgefallen?«
    »Was denn?«
    »Ich weiß nicht … ein ungewöhnliches Verhalten, etwas …«
    »Nein, eigentlich nicht. Im Fernsehen sagten sie, dass er … schizophren war, aber wenn er herkam, machte er keinen verrückten Eindruck. Nur etwas schüchtern … Für welche Zeitung arbeiten Sie?«
    »Fürs Fernsehen«, antwortete ich lässig.
    Sie schien zufrieden und entfernte sich mit einem Lächeln. Ich legte ihr ein Trinkgeld auf den Tisch und ging auf die Straße hinaus.
    Den restlichen Nachmittag und den frühen Abend verbrachte ich bummelnd in der Altstadt, als könnte es mich Reynald näher bringen, wenn ich durch dieselben Straßen spazierte wie er, als könnte es mir helfen, ihn zu verstehen. Warum sollte dieser Typ, der mir so sehr ähnelte, die Bomben gelegt haben? Stand die Antwort etwa auf die Mauern der Gassen in Nizza geschrieben? War seine Seele dort irgendwo? Ich, der die Gedanken der Menschen hörte, konnte nichts finden, hier auf diesen Bürgersteigen, über die er tausendmal geschlendert sein musste.
    Meine Entschlossenheit überraschte mich. Die Apathie der ersten Tage war vergessen, genauso wie die Trägheit der Neuroleptika, die Angst, die Unentschlossenheit. Ich war ein anderer Mann geworden. Auf meiner langen Suche nach mir selbst würde ich mich am Ende vielleicht neu erschaffen. Trotzdem konnte ich mich einfach nicht an die anscheinend angeborenen Fähigkeiten gewöhnen, die ich seit Beginn dieser Geschichte an den Tag legte. Die Verfolgungsjagd in La Défense, das Auto meines Chefs, das Öffnen des Schlosses mit einem Taschenmesser, der Faustschlag in das Gesicht des Rechtsanwalts, meine Nachforschungen, die ich mit einer mir ganz neuen Beharrlichkeit führte: Ich hatte den Eindruck, von einem Phantom besessen zu sein, viel mehr zu können, als ich ahnte, und je mehr Zeit verstrich, desto größere Gewissheit erlangte ich, dass es für all das eine vernünftige Erklärung gab. Etwas aus meinem früheren Leben prädisponierte mich für diese Situation. Ich begann mich zu fragen, ob ich Polizist oder Gauner gewesen war … irgendwas in der Art. Nur eines war sicher: Ich hatte sicher nicht in einem Patentamt gelernt, Auto zu fahren wie ein Rennfahrer in Le Mans und rechte Haken zu verteilen!
    In diesem Teil Frankreichs brach die Nacht spät herein, und ich wartete lange auf die völlige Dunkelheit, bevor ich zu dem alten Haus in der Rue du Château zurückkehrte.
    Das Viertel trug sein Nachtgesicht. Nur noch wenige Menschen waren auf den Straßen unterwegs, und fröhliche, vom Alkohol und der Nachtluft

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