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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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überließ. Im Grunde ging es mir gut, weit weg von allem, weit weg von mir.
    Es war schon nach 5 Uhr, als mir wie nebenbei auffiel, dass der Saal sich zum großen Teil geleert hatte. Einige Minuten später kam ein junger Mann im schwarzen T-Shirt, wahrscheinlich der Barkeeper, und gab mir zu verstehen, dass es an der Zeit war, die Segel zu setzen. Benommen erhob ich mich und taumelte betrunken und erschöpft auf die Straße hinaus.
    Gegen 6 Uhr stand ich wieder vor der Gare de Lyon. Ich schwebte in einer Art Halbschlaf. Ich musste noch fast zwei Stunden warten und fand auf dem Vorplatz, abseits der Autos, eine alte grüne Bank, auf die ich mich völlig groggy fallen ließ. Ich lehnte den Kopf nach hinten gegen eine raue Wand und sank in einen unruhigen Schlaf. Alle paar Minuten riss ich mich mühsam aus Morpheus' Armen, schaute auf die Bahnhofsuhr und schlief wieder ein, ohne nachzudenken. Einmal weckte mich das Geräusch eines weglaufenden Typs aus dem Schlaf. Ich war mir nicht sicher, ob es Wirklichkeit war. Hatte ich geträumt, oder hatte der Typ gerade meine Taschen durchwühlt? Ich steckte die Hand in meine Jackentasche. Meine Brieftasche war noch da.
    Um 7.40 Uhr war ich klar genug, um das Gefühl von Dringlichkeit wahrzunehmen. Ich ging zu den schon stark belebten Bahnsteigen und stieg ohne Zeit zu verlieren in den Zug. Ich schlich mich auf meinen Platz, schob meinen Rucksack unter den Sitz und machte es mir bequem. Die ganze erste Hälfte der Strecke schlief ich tief.
    Kurz nach dem Mittag weckten mich funkelnde Sonnenstrahlen. Ich streckte mich und versuchte, mich zu orientieren. Ich hatte den Eindruck, nicht ich selbst zu sein, keine wirkliche Kontrolle über mich zu haben. Eine Art Synchronizität oder eine Entkörperlichung. Oder ganz einfach nur ein Kater. Ich brauchte Kaffee.
    Ich stand auf und ging in das Bistro des TGV. Auf einem hohen Stuhl sitzend, wanderten meine Augen zwischen Agnès' Brief – den ich zusammen mit den Hunderteuroscheinen aufbewahrt hatte und der nun glatt gestrichen vor mir lag – und dem rosaroten Schauspiel der Côte d'Azur, die unter dem Sommerhimmel draußen vorbeizog, hin und her. Ich ließ mich verzaubern von der zackenförmigen Küstenlandschaft, den Häusern mit ihren Balustraden, der roten Erde der kleinen Canyons, die der Zug überquerte, dem künstlichen Blau der luxuriösen Swimmingpools und der Engelsbucht, die langsam in der Ferne auftauchte … Dann vertiefte ich mich in die wenigen Zeilen von Agnès. Das ist alles, was ich tun kann. Ich hoffe, du schaffst es. Viel Glück! Ihre Abwesenheit, ihre Abreise verdarben die Aussicht, genauso wie diese schrecklichen Häuserreihen, die sich vor dem Meer aufrichteten. Eine Beleidigung für die schlichte Schönheit, die es eigentlich sein sollte. Zwischen Cannes und Antibes ertappte ich mich dabei, dass ich es ihr übelnahm.
63.
    Um 13.33 Uhr fuhr der Zug in den Bahnhof von Nizza ein. Kaum war ich mit meinem kleinen Rucksack über der Schulter ausgestiegen, schlug mir die erdrückende Hitze der Stadt entgegen.
    Ich hatte den Eindruck, das Land verlassen zu haben, denn Frankreich war für mich viel zu lange auf den Anblick von Paris beschränkt gewesen. Hatte ich denn je woanders gelebt? Hier war alles anders, alles fremd. Die Menschen, die Bäume, der Himmel, die Gerüche … sogar die Sekunden schienen nicht mehr dieselben. Es roch nach Italien, und die Nouvelle Vague schwappte in die überdimensionierten Brillen der parfümierten Passantinnen. Ich war Michel Piccoli, und meine Verachtung galt meiner Abwesenden, meiner Brigitte Bardot. In meiner Tasche steckte ein zerknüllter Zettel mit den Worten: Ich hoffe, du schaffst es. Viel Glück!
    Bei der Touristikinformation im Bahnhof kaufte ich mir einen Stadtplan und ging sofort in die Altstadt von Nizza hinunter. Ich steuerte direkt auf mein Ziel zu, denn ich war nicht hergekommen, um den Augusttouristen zu spielen.
    In den Straßen der Altstadt wimmelte es von Menschen, ganze Schwärme schienen von einem unsichtbaren Wind getrieben, Einheimische mit starkem Akzent und lauter Stimme, Urlauber aus aller Welt. Die Sonnenhitze zwang alle zu einem gemäßigten Tempo. Man nutzte den Schatten in den engen kleinen Gassen und schlenderte umher. Menschenstaus entstanden. Ich ließ mich von den Gelb- und Rottönen von Nizzas Mauern gefangen nehmen, von den pastellfarbenen Häuserfassaden, von den bemalten Schiefertafeln, die die Vorzüge des Absinth priesen, von den Girlanden aus

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