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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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totschlagen …
    Ich lief einfach weiter, ein wenig verloren, ein wenig verwirrt, und bald erreichte ich das Bastille-Viertel. Die Straßen waren belebt, und ich sagte mir, dass es vielleicht gar nicht schlecht wäre, wenn ich mich unter das nächtliche Volk mischte.
    Ich ging die Rue du Faubourg Saint-Antoine hinauf. Nach einigen Minuten Fußmarsch stand ich vor dem Restaurant La Fabrique, das ich bereits ein- oder zweimal zuvor besucht hatte. Es verwandelte sich nachts in einen Klub. Ich hatte schrecklichen Hunger und suchte die Anonymität. Ich beschloss hineinzugehen.
    Die Küche des Restaurants hatte bereits geschlossen, aber einen großen Salat konnte ich bekommen. In der lärmenden Umgebung setzte ich mich an einen Tisch in der Ecke und aß schnell. Ich machte es mir in der dunklen Ecke bequem und beschloss, in dem unauffälligen flackernden Licht verborgen zu bleiben. Einen Großteil dieser Nacht verbrachte ich auf einem eiförmigen Sessel – einer ungewöhnlichen Nacht, die in Lärm und Farben badete, während ich zahllose Whiskys und White Russians in mich hineinschüttete und die ununterbrochene House-Musik eines aufgedrehten DJs genoss, der im beißenden Qualm meiner Zigaretten wild auf der Tanzfläche gestikulierte. Mein Aufenthalt in dieser wilden Höhle erschien mir wie eine lange schizophrene Halluzination, der sich alle meine Sinne wie willige Sklaven ergaben, zweifellos in der Begeisterung, für kurze Zeit den beängstigenden Farben der Wirklichkeit entronnen zu sein. Die Stunden vergingen wie verschwimmende Minuten aus Flashs und synkopischen Bildern von erhobenen Fäusten, abstehenden Haaren und Gesichtern, die in Trance erstarrten. Mein Herzschlag schien ein Echo der regelmäßigen elektronischen Bässe, die mir unter die Haut gingen. Ich wechselte ein paar Worte mit anderen Gästen, ohne sie wirklich zu verstehen. Ich tanzte ein wenig und ungeschickt, ich erkannte einen Filmschauspieler inmitten einer Horde junger Frauen, falls es nicht falsche Erinnerungen waren …
    Ich erinnere mich, dass ich mitten in der Nacht, ohne mich zeitlich festlegen zu können, durch die tanzende Menge zur Toilette gegangen bin. In meinem Kopf drehte sich alles. Auf das Waschbecken gestützt, schaute ich mich in einem kleinen zerbrochenen Spiegel zwischen Postern und kunterbunten Flyern fragend an. Ich sah rote Augen in einem bleichen Gesicht. Schweißtropfen perlten über den kahlen Schädel und die Stirn. In diesem Moment erblickte ich in der rechten Ecke des Spiegels das Gesicht einer jungen Frau. Sie kam mit einem Lächeln auf den Lippen langsam näher. Ich glaubte, sie zu erkennen. Lange rote Haare, kleine Stupsnase, füllige verschmitzte Lippen. Wir hatten kurz zuvor miteinander getanzt. Mir schien, sie hatte mit mir geflirtet, aber ich schob es auf meine Paranoia oder auf den Alkohol. Ich hatte ihr nicht wirklich geglaubt und sie nicht weiter beachtet. Ich hatte mich sicher geirrt, es war nicht der Moment, mich vom Unsinn meines armen Gehirns täuschen zu lassen … Doch jetzt konnte ich mich nicht mehr irren. Langsam schmiegte sich die junge Frau an meinen Rücken. Ich lächelte. Ich musste träumen! Dann spürte ich ihre Lippen auf meinem Hals, ziemlich reale Lippen. Ich hob den Blick und sah unsere beiden Silhouetten im Spiegel miteinander verschmelzen. Ihre Hände strichen über meine Hüften. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich ergriff ihre Finger, um sie festzuhalten. Mein Herz schlug schneller. So unpassend der Augenblick auch war, ich spürte heftiges Verlangen in mir aufsteigen. Es überwältigte mich offenkundig. Ich habe eine Erektion. Ich fing an zu lachen. Scheiße, ich habe eine Erektion! Ich drehte mich um, fasste das junge Mädchen an den Schultern und schob sie langsam von mir, von meinem Körper weg. Ich schenkte ihr ein bedauerndes Lächeln.
    Sie lächelte, zuckte die Schultern und verschwand in Richtung Toiletten.
    Vollkommen durcheinander kehrte ich in das große weiße Ei zurück, das unter den farbigen Spots funkelte. Mein Blick verlor sich jenseits der tanzenden Lichter. Flüchtig erschien mir Agnès' Gesicht wie ein riesiges Dia an der weißen Decke der Diskothek. Ihre großen grünen Augen musterten mich. Ich hätte ihr gern gesagt: Ich bin geheilt. Ich seufzte und ließ mich von den Wellen meiner Trunkenheit davontragen. Ich verlor schnell den Faden, und die Vibrationen der Zeit und der Musik vereinigten sich zu einem nebulösen Magma, dem ich mich resignierend

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