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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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provenzalischen Tüchern, von den Cafés und den kleinen Geschäften, von den alten Frauen, die in ihre Schals gehüllt in den Toreinfahrten festgewachsen schienen und ihre tausend Klatschgeschichten austauschten, von den jungen Kerlen, die auf ihren Mopeds vorbeiflitzten, von den Marktschreiern … Bald gelangte ich in das Künstlerviertel, zu den Bohémiens des Südens, mit all ihren Galerien und den Schaufenstern, in denen Dutzende bunter Plakate hingen. Ich ging die Rue Droite hinunter, am Palais de Lascaris vorbei und fand endlich die Gasse, die ich auf dem Stadtplan markiert hatte.
    Ich fröstelte, als mir plötzlich bewusst wurde, dass sich hier der Grund meiner Reise befand. Und ein Großteil meiner letzten Hoffnungen. Die heimliche Wohnung von Gérard Reynald lag nur wenige Meter von mir entfernt. Würde ich dort Antworten finden? Neue Spuren? Wusste die Polizei noch nicht, dass es sie gab? Das war ganz und gar nicht sicher. Meine Reise war vielleicht vergeblich. Aber wenigstens suchte ich. Ich war keine Schachfigur, ich handelte selbst. Jedenfalls versuchte ich es.
    Die Rue du Château oder Carriera del Castu, wie auf dem Straßenschild stand, war eine kleine enge Gasse, die steil zu einem Hügel anstieg, der die Engelsbucht überragte. Die Fassaden der Häuser zu beiden Seiten standen so nah, dass man den Eindruck hatte, sie würden einander begegnen, bevor sie den Himmel erreichten. Die Stufen der Gasse waren mit weißen Steinen gepflastert. Durch die Wäsche, die anstelle von Gardinen in den Fenstern hing, sah man hie und da rosa, ocker oder gelb gestrichene Wände. Das war schon Sizilien.
    Ich stieg die langen Stufen hinauf. Rechts spielten Jungen in einem Hof, Türen standen weit offen. Man hörte den Radau eines Tischfußballspiels und den Widerhall der Freudenschreie der Spieler. Ich ging weiter wie ein Spaziergänger und blieb schließlich vor der Nummer 5 stehen. Eine alte abgenutzte Holztür und eine Gegensprechanlage mit etwa einem Dutzend Familiennamen versperrten mir den Eingang. Ich trat vorsichtig näher, die Hände immer noch in den Taschen vergraben. Auf einem Schild las ich ›G. R.‹. Die Abkürzung für Gérard Reynald? Mit großer Wahrscheinlichkeit. Trotzdem zögerte ich einen Moment. Ich schaute mich um. Und wenn Blenod sich geirrt hatte? Und wenn die Bullen schon da waren und seelenruhig in der Wohnung auf mich warteten? Wollte ich gerade das Dümmste tun, was ein gejagter Mann nur tun konnte? Ich entschied, dass es zu spät war, darauf zu verzichten. Ich hatte ganz Frankreich durchquert, umzukehren kam nicht in Frage. Jedenfalls hatte ich lange genug gezögert. Wenn meine Nachforschungen hier zu Ende sein sollten, dann war es auch in Ordnung. Ich wollte lieber in Nizza der Polizei in die Hände fallen, während ich versuchte, etwas zu erreichen, als mich in Paris zu verkriechen. Ich drückte auf den Klingelknopf. Nichts. Zweiter Versuch. Wieder keine Antwort. Die Wohnung war zweifellos leer, wie ich es gehofft hatte. Ich warf einen Blick auf die Holztür. Ich wusste, dass sie einem harten Schulterdruck nicht widerstehen würde, aber es war nicht der richtige Augenblick, auf sich aufmerksam zu machen. Kinder spielten wenige Meter entfernt auf der Straße. Es schien angebracht, auf die anonymen Schatten der Nacht zu warten. Außerdem starb ich vor Hunger.
    Auf der Suche nach etwas Essbarem schlenderte ich durch die engen Straßen der Altstadt, als das schillernde Schaufenster eines kleinen Geschäfts meine Aufmerksamkeit erregte. Ohne nachzudenken, blieb ich stehen, die Hände wie ein unentschlossener Kunde in den Taschen vergraben. Vor mir lagen Dutzende von Uhren auf farbigen Schatullen aufgereiht, in allen Größen und Formen, für Männer, für Frauen, für Kinder, Quarzuhren, automatische Uhren, Uhren mit Zeigern oder digitaler Anzeige, schöne Markenuhren und einfache billige Exemplare. Mich faszinierte dieses banale Schauspiel, diese unbedeutenden Gegenstände, die verlassen hinter den großen Scheiben brav die verstreichende Zeit maßen. Im warmen Licht der Lampen zeigten alle Uhren übereinstimmend dieselbe Zeit. Ich hob mein Handgelenk und sah auf meine Uhr. Da blinkten immer noch die hypnotischen Ziffern 88:88. Ich lächelte. Warum weigerte ich mich, sie richtig zu stellen? Das ließ allmählich auf echten Aberglauben schließen. Vielleicht vermittelte es mir aber auch den Eindruck, mich außerhalb der Zeit, außerhalb der Welt zu befinden … Oder vielleicht war der

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