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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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im 17. Arrondissement, aber das ist nicht der beste Ort für eine Verabredung.«
    »Wo dann?«
    Ich überlegte. Ein neutraler Ort. Ein Ort, an dem ich mich in Sicherheit fühlen würde.
    »Am Quai du Blues.«
    »Machen Sie Witze? Es ist nicht die beste Gelegenheit, Blues zu hören, mein lieber Vigo.«
    »Monsieur de Telême, ich muss Sie dort sehen, allein, geschützt vor neugierigen Blicken. Können Sie heute Abend dort sein?«
    Er schwieg. Nach einem genervten Seufzer stimmte er zu.
    »Gut, ich werde gegen 22.30 Uhr da sein.«
    Ich legte auf. Abends nahm ich ein Taxi und fuhr nach Neuilly, in das ruhige Zentrum der Ile de la Jatte.
30.
    Moleskin-Notizbuch,
Anmerkung Nr. 131: Zufälle
    Ich weiß, dass schizophrene Anfälle sich hauptsächlich als Verzerrungen der Gedanken und der Wahrnehmung äußern. Ich glaube nicht mehr, dass ich schizophren bin. Doch unter all den psychopathologischen Phänomenen, die hervorragende Spezialisten erfassen können, gibt es eines, gegen das ich im Alltag kämpfen muss: gegen die Neigung, Ideen zu assoziieren, die keine wirklichen Verbindungen miteinander haben, und gegen eine gewisse Besessenheit für Details: Zahlen, Daten, Ereignisse …
    Ich sehe jederzeit und überall geheimnisvolle Zufälle, die mir in die Augen springen. Ich sehe diese verborgenen Verbindungen, diese unsichtbaren Fäden, ich errate diese geheimnisvollen Verknüpfungen. Überall um mich herum ist die Welt voller Botschaften, die ich unwillkürlich miteinander verknüpfe, als ob alles eine geheime Absicht enthalten müsse, einen Sinn, der dem Universum verborgen bleibt.
    Seit dem Attentat hat sich dieser Eindruck verstärkt. Ich rede mir vergebens ein, dass es eingebildete Verbindungen sind, und doch erkenne ich in den kleinsten Ereignissen einen verborgenen Sinn.
    Zum Beispiel Kopernikus. Seit meine Psychologin mir von diesem polnischen Astronomen erzählt hat, erkenne ich seinen Namen überall. Erst sagt sie mir, ich leide unter einem Syndrom, das seinen Namen trägt, dann erinnere ich mich daran, dass der kleine Rundbau, durch den ich in die Katakomben gelangte, in der Kopernikusstraße steht und dass die Journalisten im Fernsehen unaufhörlich den Anschlag auf die Synagoge in derselben Straße erwähnen. Mir schien, ich würde von diesen Übereinstimmungen belagert.
    Aber ich darf dieser fixen Idee nicht nachgeben. Das Leben ist voller Zufälle, aus dem einfachen Grund, aus dem die Ereignisse den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gehorchen. Wir neigen dazu, nur die Zufälle zu bemerken, ohne zu berücksichtigen, dass sie inmitten einer beträchtlichen Zahl anderer Ereignisse auftreten, an denen nichts Ungewöhnliches ist. Ich weiß es: Das Auftreten dessen, was uns als übernatürlicher Zufall erscheint, erklärt sich in Wirklichkeit durch das sogenannte ›Gesetz der großen Zahl‹. Diesem Gesetz zufolge wird bei einer ausreichend großen Auswahl an Ereignissen selbst das Unwahrscheinlichste wahrscheinlich.
    Und dennoch … Wie kann man zwischen einer einfachen Wahrscheinlichkeit und einem wirklich bedeutenden unerwarteten Ereignis unterscheiden?
    Unwillkürlich stöbere ich im Unsichtbaren herum.
31.
    »Vigo. Sie sehen ja furchtbar aus.«
    Der Abend hatte schon vor längerer Zeit begonnen. Der große Saal lag in warmes rotblaues Licht getaucht. Die Abendessenzeit war vorüber, und aller Augen richteten sich auf die Bühne, auf einen alten Bluessänger aus New Orleans. Dieser Mann, seine Stimme und seine Gitarre fügten sich harmonisch in das bunte Licht. Ein Zusammenspiel aus Noten, Rhythmen und melancholischen Tönen, das direkt ins Herz traf. Die Klagen eines verlassenen Mannes ertönten in allen Variationen, weich oder metallisch, und alles um ihn herum weinte leise mit: die Tasten der Hammondorgel mit dem Leslie-Lautsprecher, die Finger, die über einen Bass ohne Verstärker glitten … Es war so schön wie ein Abschiedsbrief, der ein Jahrhundert später auftaucht. Ich bekam Gänsehaut. Mein ganzer Körper nahm die Musik auf. Nur wenige Schritte von der kleinen Bühne entfernt hatte ich das Gefühl, selbst eines dieser Instrumente zu sein.
    »Vigo?«
    Ich riss mich aus meiner Erstarrung und versuchte, Monsieur de Telême anzulächeln. Es war 22.48 Uhr. Er setzte sich mir gegenüber, wirkte nervös und schien sich in seinem grauen Anzug unbehaglich zu fühlen.
    Ich erkannte sofort, dass er mich nicht mehr mit denselben Augen betrachtete wie früher. In den letzten zehn Jahren war er eine der wenigen

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