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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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angesichts des Unglaublichen. Die Psychologin konnte es nennen, wie sie wollte, Kopernikus-Syndrom oder nicht: Seit heute besaß ich den besten Beweis dafür, dass ich die Gedanken der Menschen hörte, doch niemand würde mir glauben.
    Ich wiederholte still tausendmal diesen unvorstellbaren Satz. Ich höre die Gedanken der Menschen. Und nichts machte es leichter, sie zu hören. Nicht einmal die Gewohnheit. An das Unbegreifliche kann man sich nicht gewöhnen.
    Ich saß reglos in meinem Hotelzimmer. Plötzlich erfasste mich der unbändige Wille, meine Eltern wiederzusehen. Ich wollte Marc und Yvonne Ravel finden und hoffte, dass sie existierten, dass es sie wirklich gab. Wenn ich nicht mehr ich selbst war, dann war ich vielleicht wenigstens ein Sohn. Ich wollte in ihren Augen das und sei es minimale Aufleuchten des Wiedererkennens sehen. Meine Identität.
    Ihr Name ist nicht Vigo Ravel. Aber wer war ich dann? Wie lautete mein Name? Was für eine Geschichte hatte ich? Würden die Menschen, die mich hatten aufwachsen sehen, es mir sagen können?
    Wie auch immer mein Verhältnis zu meinen Eltern sein mochte: Ich war überzeugt, dass sie mir ein wenig Trost spenden konnten. Zumindest so viel, um mich aufrecht zu halten. Auf jeden Fall hatte ich keine bessere Idee. Ich musste sie auf der Stelle sehen. Und da die Auskunft sie offenbar nicht finden konnte, blieb mir kein anderer Weg, als so schnell wie möglich in die Wohnung in der Rue Miromesnil zurückzukehren. In diese verdammte Wohnung. Ich musste persönlich hingehen und dem vertrauen, was ich dort sehen würde.
    Leider erfüllte mich die Vorstellung, auf die Straße zu treten, mit großer Furcht. Denn draußen waren die anderen. Die Stimmen, das Gemurmel. Und ich wusste jetzt, dass dieses Gemurmel keine Folge auditiver Halluzinationen war. Dass es nicht auf eine starke paranoide Schizophrenie zurückzuführen war. Dieses Gemurmel waren die Gedanken der Menschen. Sie waren real. Und ich wollte sie nicht mehr hören. Aber hatte ich überhaupt eine Wahl?
    Ich raffte meinen ganzen verbliebenen Mut zusammen und erhob mich langsam. Ich betrachtete mich im Spiegel wie bei einem Ritual, und ohne es wirklich zu glauben, hatte ich trotz allem den Eindruck, mich wiederzuerkennen. Zumindest sah ich noch dasselbe Gesicht. Es war meine letzte Stütze, meine letzte Realität. Diese blauen Augen. Dieser strenge Mund. Diese sorgenvolle Stirn. Aber ich spürte nach wie vor diesen seltsamen Eindruck, dieses Unbehagen, das mein Spiegelbild mir verursachte. Als sei in ihm ein Symbol eingeschlossen, das mir entging. Und das mich grundlos störte.
    Ich stürmte aus dem Hotel, beschloss, nicht mit der Metro zu fahren. Zu viele Leute, zu viele Schatten, zu viele Stimmen. Also ging ich den ganzen Weg bis zu meinen Eltern zu Fuß. Unterwegs wiederholte ich die unglaubliche Wahrheit. Ich bin nicht schizophren. Dieser Gedanke erfüllte meinen Geist und ersparte mir sicherlich, die Gedanken der Menschen zu hören, denen ich begegnete. Sobald eine Person auftauchte, wich ich ihr aus und widmete mich mit gesenktem Blick meiner zwanghaften Selbstbetrachtung.
    Als ich vor dem Gebäude stand – ich konnte es nicht erfunden haben, denn ich erkannte es –, war ich nur ein wenig überrascht, als sich die Flügeltür nicht öffnete, nachdem ich den Code eingegeben hatte. Ich bewahrte die Ruhe, ich glaube sogar, dass ich ein Lächeln andeutete. Vielleicht hatte man den Code geändert. Oder vielleicht hatte ich mich geirrt. Schließlich hatte ich auch unsere Telefonnummer vergessen … Dabei schloss ich auch nicht ganz aus, dass die Rue Miromesnil eine falsche Erinnerung sein könnte. Eine Erfindung. Nein. Die Wohnung in der Rue Miromesnil konnte keine Halluzination sein. Ich hatte keine Halluzinationen. Ich war nicht schizophren.
    Während ich versuchte, mich nicht von Panik übermannen zu lassen, wartete ich, bis eine Frau hineinging, und lief ihr hinterher. Sie beachtete mich nicht. Vielleicht erkannte sie mich. Ich konnte es nicht sagen, ich hörte ihre Gedanken nicht. Es war auch nicht schlimm. Sie nahm den Aufzug, ich stieg die Treppe hinauf.
    Je höher ich kam, desto ängstlicher wurde ich. War ich bereit für eine neue Überraschung, eine neue Desillusion? Als ich das letzte Mal hier war, hatte zuvor jemand die Wohnung ›besucht‹. Und man hatte eine Kamera installiert. Auch das konnte ich nicht erfunden haben. Aber was erwartete ich dann? Dass meine Eltern zurückgekehrt waren? Dafür standen

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