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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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neuem.
    »Monsieur, Ihr Name ist nicht Vigo Ravel, und Sie sind nicht schizophren. Finden Sie das Protokoll 88. SpHiNx.«
    Wie glaubwürdig war diese surrealistische Botschaft? Sie sind nicht schizophren. Leicht gesagt. Doch wie konnte ich es genau wissen? Warum sollte ich dieser Botschaft glauben? Nach all der Zeit, in der ich mir selbst diese Frage gestellt hatte, nach all der Zeit, da die Psychiater mir die Beweise vorgelegt hatten … Wie konnte ich einem einfachen kleinen Stück Papier glauben, das ein gewisser geheimnisvoller SpHiNx am Hotelempfang hinterlassen hatte? All das war vollkommen lächerlich.
    Doch vielleicht gab es eine Möglichkeit, es herauszufinden. Gewissheit zu bekommen. Ja. Vielleicht. Eine einzige Möglichkeit. Mit zitternder Hand griff ich nach meinem Handy und wählte Agnès' Nummer.
    Die junge Frau hob gleich beim ersten Läuten ab.
    »Vigo! Es geht nicht, dass Sie mich anrufen. Ich dachte, das gelte nur für den Notfall. Wir haben uns doch erst vor einer Stunde voneinander verabschiedet.«
    »Ja, aber es ist ein Notfall.«
    »Sie machen sich wohl über mich lustig? Vigo, Sie stören. Ich hätte Ihnen nie und nimmer meine Nummer geben dürfen.«
    Sie war so wütend, dass ich ihre Stimme kaum wiedererkannte. Ich räusperte mich, ich fühlte mich unwohl. Aber es war wirklich dringlich.
    »Agnès. Woran haben Sie vorhin im Café gedacht, als Sie mich betrachtet haben?«
    »Was soll dieser Quatsch?«
    Ich seufzte, ich wagte nicht, ihr zu sagen, was ich zu sagen hatte. Doch ich musste es wissen.
    »Agnès. Ihr Onkel … Hat er … Hat er blaue Augen wie ich?«
    »Wie bitte?«, rief sie verblüfft aus.
    Ich war mir der Absurdität meiner Frage bewusst. Wenn ich mich täuschte, wenn alles eine Halluzination war, dann würde sie mich wirklich für einen Schwerkranken halten. Und vermutlich würde sie mich nie wiedersehen wollen. Aber ich war mir sicher, dass ich mich nicht täuschte.
    »Vorhin im Café, als Sie mich angesehen haben, als ich Ihnen sagte, dass ich Sie schön finde, haben Sie gedacht, dass ich nicht wirklich gut aussehe, aber schöne Augen habe wie …«
    »… wie mein Onkel«, fuhr Agnès mit unsicherer, ungläubiger Stimme fort. »Woher … woher wissen Sie das?«
    Endlich bekam ich die Antwort auf meine älteste Frage. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich mir sicher. Absolut sicher. Ich hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Aber nein. Ich musste mich der Wirklichkeit stellen. Sie kontrollieren. Also stotterte ich: »Agnès … Ich … ich bin nicht schizophren. Ich höre die Gedanken der Menschen.«

Zweiter Teil
    Gnosis
29.
    Manche Minuten scheinen länger zu dauern als die gewöhnlichen sechzig Sekunden. Die Relativität hat nichts Theoretisches mehr. Man taucht unter, man erstickt, man wird von allen Seiten her erdrückt.
    In diesem Augenblick war mir so schwindlig, dass ich glaubte, eine Ewigkeit lang in eine bodenlose Gletscherspalte zu stürzen. Das Echo dieser Sätze erklang in meinem Kopf wie ein Hilferuf auf einem verwaisten Parkplatz: »Monsieur, Ihr Name ist nicht Vigo Ravel, und Sie sind nicht schizophren.«
    Nicht schizophren, schizophren, schizophren. Es war, als hätte ich alles verloren, was ich besaß, keine materiellen Güter, sondern Gewissheit und Selbstbewusstsein – ein Bewusstsein, das seit langer Zeit nur noch aus Trümmern bestand. Alles, was meine Identität betraf, mein Gedächtnis, auch wenn es noch so dürftig war, meine Gedanken, meine Sicht der Welt, alles, was mir von meiner zerbrechlichen Intimität geblieben war, brach zusammen wie ein Kartenhaus, das nie wiederaufgebaut werden konnte. Von einer Sekunde auf die andere war ich nicht mehr ich selbst, sondern ein anderer, der auch noch vollkommen anders war. Ein Unbekannter, der nie schizophren gewesen war, der nie Vigo Ravel gewesen war, sondern der seit über zehn Jahren tatsächlich – ohne sich dessen bewusst zu sein – die Gedanken der Menschen hörte. Keine Halluzinationen. Gedanken. Echte und geheime. Ferne, aber konkrete. »Heute die Zauberlehrlinge im Turm, morgen unsere mörderischen Väter im Bauch, unter 6,3.« Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, musste ich weinen, ich konnte es nicht verhindern. Alles ist gelogen. Agnès hatte mich sicher nicht verstanden. Sie konnte mich nicht verstehen. Niemand konnte es. Weder mich verstehen noch mir glauben. Denn mein ganzes Leben überstieg die menschliche Fassungskraft. Ich war allein, ganz allein, schrecklich allein

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