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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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die Chancen ziemlich gering.
    Vor der Tür, der großen Holztür, die ich sofort erkannte, holte ich die Schlüssel aus der Tasche und atmete tief durch. Im Haus war es absolut still. Was würde ich in der Wohnung vorfinden? Würde sie wieder so sein wie immer? Oder würde sie sich immer noch in dem chaotischen Zustand befinden wie ein paar Tage zuvor, mit der Kamera, die ich zu Boden geworfen und zertreten hatte? Würde ich auf die erstaunten Gesichter meiner Eltern stoßen?
    Ich konnte nicht länger zögern. Die Wahrheit befand sich nicht in meinem Kopf, sondern in diesen Zimmern. Ich schluckte schwer und näherte den Schlüssel langsam dem Schloss. Mit zitternder Hand traf ich mehrmals daneben. Ich gab nicht auf, doch zu meinem großen Erstaunen gelang es mir nicht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Vermutlich zitterte ich zu sehr. Ich versuchte es erneut. Aber nein, nichts zu machen. Vielleicht war es nicht der richtige Schlüssel. Man hatte das Schloss ausgetauscht, oder ich hatte nie hier gewohnt …
    Geh.
    Wie ein paar Tage zuvor auf dem Gelände in La Défense befahl mir mein Instinkt, sofort zu fliehen. Ich wusste ganz genau, dass ich hier nicht bleiben konnte. Eine Stimme tief in meinem Inneren schrie mir zu, dass ich in Gefahr sei. Mein ganzer Körper nahm den Geruch einer drohenden Lebensgefahr auf. Aus welchem Grund auch immer mein Schlüssel nicht mehr passte, ich durfte nicht vor dieser Tür verharren. Ohne Umschweife machte ich kehrt und rannte die Treppe hinunter. Meine Schritte hallten an den weißen Wänden des Treppenhauses wider. Sie verschmolzen miteinander, so dass ich bald nicht mehr sicher war, allein zu sein. Ich rannte auf die Straße hinaus.
    Mein Herz schlug zum Zerspringen. Ich war erschlagen von der Einsamkeit, der Bedrängnis und der Angst. Wo konnten meine Eltern sein? War ihnen etwas zugestoßen? Waren sie überhaupt meine Eltern?
    All diese Rätsel schienen mir unlösbar. Und ich fühlte mich verlorener denn je.
    Wie ein Betrunkener wankte ich auf die Rue Miromesnil und wäre fast in Ohnmacht gefallen. Ich ging an den Händlern vorbei, die ich gut kannte und die mir plötzlich fremd geworden waren. Der Schuster, dieser alte verbitterte Rassist, mit dem ich mich vor Jahren verkracht hatte, die orientalische Konditorei mit ihrem starken Zuckerduft, der irische Pub, der Tabakladen Europa, in dem ich meine Zigaretten kaufte: Ich erkannte sie alle. Es konnten keine falschen Erinnerungen sein. Und doch gelang es mir nicht, mich hier noch zu Hause zu fühlen, unter diesen Menschen.
    Verstört verließ ich das Viertel meiner Eltern und bog in eine kleine verlassene Gasse ein. Mein Kopf wurde immer wirrer. Vor einem alten Haus ließ ich mich auf eine Treppenstufe fallen und stützte meinen Kopf in die Hände. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Wohin sollte ich gehen? An wen sollte ich mich wenden? Bei wem konnte ich etwas Ruhe, vielleicht Hilfe finden? Ein schlichter Blick, der mir sagen könnte, dass ich nicht verrückt war, dass ich existierte. Dass ich schon immer existiert hatte.
    Agnès? Nein. Ich konnte mir nicht erlauben, sie schon wieder zu stören, und außerdem kannte sie mich auch gar nicht lange genug. Meine Psychologin? Auch nicht. Das hätte nicht gereicht. Ich brauchte einen älteren Beweis für meine Existenz. Also kam ich wieder auf ihn. Auf Monsieur de Telême. Mir wurde bewusst, dass er vielleicht meine letzte Chance war. Meine einzige Verbindung zur Vergangenheit. Meine einzige Verbindung zu dem Menschen, der ich zu sein glaubte. Vigo Ravel, sechsunddreißig, schizophren.
    Ich griff nach meinem Handy und wählte seine Nummer. Ich hörte das beruhigende Läuten, wenn eine Leitung frei ist. Monsieur de Telême nahm ab. Ich fühlte mich sehr erleichtert.
    »Vigo? Wo sind Sie, um Gottes willen? Seit einer Woche suchen alle nach Ihnen.«
    Vigo. Er hatte mich Vigo genannt. Er hatte meine Stimme erkannt. Für ihn existierte ich.
    »Monsieur de Telême, ich muss Sie sehen. Ich habe … Schwierigkeiten.«
    »Das glaube ich auch, mein Lieber. Seit dem 8. August haben wir nichts von Ihnen gehört. Ich hoffe, Sie können mir das erklären. Ich erwarte Sie morgen früh im Büro.«
    »Nein. Nicht im Büro. Und nicht morgen.«
    »Was heißt das, nicht im Büro?«
    »Monsieur de Telême, ich möchte bitte, dass wir uns irgendwo anders treffen.«
    Er zögerte. Ich hätte nicht sagen können, ob er beunruhigt oder verärgert war.
    »Gut. Wo sind Sie?«
    »Im Hotel Novalis,

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