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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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beiden Bluthunde.
    Er warf einen Blick in ihre Richtung und nickte.
    »Okay, folgen Sie mir«, sagte er und griff nach meinem Arm.
    Ich rannte hinter ihm her. Wir schlängelten uns zwischen den Stühlen hindurch. Die Gäste schrien auf. Ich warf einen Tisch um und wäre fast hingefallen. Die Musik spielte weiter, ohrenbetäubend. Wir umgingen die Bühne, und Gérard öffnete die Bürotür vor mir. Als wir im Raum waren, schloss er hinter uns ab.
    »Los, gehen Sie da runter, beeilen Sie sich. Ich werde versuchen, sie von meinem Rausschmeißer aufhalten zu lassen.«
    Ich nickte.
    »Danke.«
    Unverzüglich rannte ich die Treppe hinunter, eilte durch das unsägliche Chaos der Büros und gelangte schnell zu der großen Tür, die mit Plakaten und Postern bedeckt war. Ich öffnete sie einen Spalt, stellte mich auf die Zehenspitzen und warf einen Blick auf die Straße. Niemand. Ich trat hinaus. Wenige Meter weiter entdeckte ich den Porsche von Monsieur de Telême, der auf dem gegenüberliegenden Gehweg geparkt war. Ich täuschte mich nicht, denn mein Chef hatte mich einige Male mit seinem Sportwagen mitgenommen, auf den er so stolz war. Ein 911er aus den achtziger Jahren. Ich ging auf das Auto zu, schaltete den Alarm aus und stieg ein.
    Vigo, du kannst nicht fahren.
    Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss links auf dem Armaturenbrett und legte meine Hände auf das Lenkrad. Meine Finger krallten sich in das schwarze Leder. Ich drehte zweimal den Kopf, um meinen Nacken zu entspannen. Die beiden Typen auf der Straße riefen laut. Ich sah sie am Eingang zum Quai du Blues. Sie rannten auf mich zu.
    Vigo, du kannst nicht fahren.
    Ich drehte den Schlüssel. Der Sechszylinder heulte auf. Ich trat die Kupplung durch und legte den ersten Gang ein.
    Du kannst nicht Auto fahren. Vor allem nicht einen solchen Wagen.
    Ich schloss die Augen, ich ließ mich von meinem Instinkt leiten. Gas geben.
    Die Reifen knirschten, die Räder drehten durch, der Wagen kam leicht ins Schleudern. Ich steuerte gegen, ich schaffte es auf Anhieb. Und ließ den Blueskeller hinter mir. Im Rückspiegel sah ich, wie meine Verfolger zu Fuß und außer Atem die Verfolgung aufgaben. Ich bog in die erste Straße rechts ein, dann in eine andere, und in Kürze verließ ich die Île de la Jatte mit überhöhter Geschwindigkeit.
    Ich kann Auto fahren.
    Ich heiße nicht Vigo Ravel, ich bin nicht schizophren, und ich kann Auto fahren.
32.
    Moleskin-Notizbuch,
Anmerkung Nr. 137: Erinnerung
    Ich sitze im Fond eines Autos. Ich weiß nicht, wohin es fährt, wo es sich befindet, wer ich bin. Zwei Personen sitzen vorn. Ich erkenne sie nicht. Es sind nur verschwommene Figuren, ohne Gesicht.
    Draußen gleitet alles an mir vorbei, ist entrückt. Ich glaube, wir sind auf dem Land, denn alles ist grün. Der Himmel ist grau, fast weiß. In der Ferne erstreckt sich das Meer, vermutlich düster und aufgewühlt. Eine Fliege setzt sich immer wieder auf meinen Arm. Jedes Mal, wenn ich sie verjage, kommt sie wieder. Sie ärgert mich. Sie fliegt langsam, wie im Zeitlupentempo, prallt gegen die Scheibe und setzt sich immer wieder auf meinen Arm. Sie widert mich an. Aber ich bringe es nicht übers Herz, sie zu zerquetschen. Mehrere Male verscheuche ich sie, vergeblich.
    Die beiden Personen auf den Vordersitzen unterhalten sich. Der Fahrer ist wütend. Ich weiß nicht, warum. Ich höre lediglich, wie seine Stimme lauter wird, und sehe seine brüsken Bewegungen.
    Plötzlich bleibt der Wagen stehen. Ich höre das Knirschen der Reifen auf dem Kies oder dem Sand.
    Hier hört die Erinnerung auf.
33.
    Nachdem ich mehrere Kreuzungen passiert hatte, wurde ich allmählich ruhiger. Im Grunde genommen war ich dermaßen überrascht, fahren zu können, dass ich alles Übrige fast vergaß.
    Zu dieser Tageszeit war es in dem Vorort besonders ruhig. Ab und zu sah ich einen Nachtschwärmer die großen baumbestandenen Alleen entlanggehen. So weit das Auge reichte, sah man die Reihen roter Lichter, die in einem schwerverständlichen Rhythmus aufeinander reagierten. Die Stadt besitzt ihr eigenes Verständnis. Umso besser für sie.
    Ich hing meinen Gedanken nach und hatte kein Zeitgefühl mehr. Wo und wann hatte ich Fahren gelernt? Und vor allem das schnelle Fahren? Einen Porsche. Ich hatte nicht die geringste Erinnerung daran, je ein Lenkrad umfasst zu haben; das ging vermutlich auf die Zeit vor meiner retrograden Amnesie zurück. Vergeblich versuchte ich, den Ursprung dieser Empfindungen wiederherzustellen.

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