Das Kopernikus-Syndrom
Weitermachen in mir aufzubauen.
»Und Sie?«, fragte sie. »Haben Sie etwas über das Protokoll 88 gefunden?«
»Nein, nichts.«
Und ich berichtete ihr von den enttäuschenden Ergebnissen meiner Recherchen.
»Ich verstehe«, erwiderte sie. »Wir müssen also anderswo suchen. Der anonyme Brief hat die Wahrheit über Ihre Identität gesagt. Wir wissen noch nicht, wer ihn geschrieben haben könnte, aber wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass Protokoll 88 eine echte Spur ist …«
Ich nickte.
»Vigo, ich glaube, für heute haben wir genug getan. Ich bin so müde, dass ich keine Kraft habe, uns ein Essen zu machen. Und Sie scheinen auch nicht gerade gut drauf zu sein, mein Lieber. Ich lade Sie also ins Restaurant ein.«
Ich runzelte die Stirn, ich war einigermaßen erstaunt.
»Ich weiß nicht. Ich fühle mich nicht sehr wohl. Und … Ich gestehe Ihnen, dass ich ein bisschen Angst habe auszugehen.«
»Aber nein, im Gegenteil. Es tut Ihnen gut. Sie waren den ganzen Tag hier eingesperrt. Ganz in der Nähe gibt es ein sehr gutes Bistro, der Tapetenwechsel wird uns beiden guttun.«
Trotz ihrer Ängste und der ›leichten Niedergeschlagenheit‹, von der mir Agnès berichtet hatte, besaß sie ungeahnte Energiereserven. Vielleicht war das ihre Möglichkeit, Widerstand zu leisten und zu kämpfen. Als ich sie das erste Mal bei der Psychologin gesehen hatte, hatte ich sie mir dummerweise gleich als eine mürrische, verschlossene und niedergeschlagene Frau vorgestellt – vermutlich weil sie so streng und ernst aussah. Aber in Wirklichkeit war sie voller Mut, Stärke und besaß sogar einen gewissen Schalk, wie ich zu ahnen begann.
»Und wenn die Kerle mir gefolgt sind?«, sagte ich. »Ich habe den Porsche meines Chefs vor dem Haus geparkt. Vielleicht haben sie ihn entdeckt, er ist ja nicht gerade ein unauffälliges Auto, und wenn das so ist, werden sie mich im ganzen Viertel suchen.«
»Reden Sie keinen Unsinn! Niemand ist Ihnen gefolgt. Vigo, Sie werden jetzt nicht ständig in Angst leben. Ich versichere Ihnen, in solchen Situationen gibt es nichts Besseres als ein gutes Restaurant.«
Sie blinzelte mir verschwörerisch zu. Ich hatte den Eindruck, bereits viel mehr mit ihr zu teilen als mit irgendjemand anderem in meinem bisherigen Leben. Das Unausgesprochene in ihren Augen enthielt tausend Erinnerungen. Ich glaube, indem sie mir half, wollte sie gleichzeitig sich selbst helfen. Am Ende brauchten wir uns vielleicht gegenseitig.
»Gut, ich folge Ihnen.«
Untergehakt verließen wir die Wohnung.
47.
»Als Hauptgericht empfehle ich Ihnen ein zartes Rumpsteak mit fünf Gewürzen.«
Das Parfait Silence war ein kleines holzgetäfeltes Restaurant im Stil eines alten Bistros, in dem sich wohlbeleibte Schlemmer und angehende Feinschmecker des 18. Arrondissements trafen. Die bunt durcheinandergewürfelte Dekoration mit einem Hauch von Art déco und hie und da den Farben der Provence war originell.
»Gut, ich vertraue Ihnen.«
»Vigo, wollen Sie Wein?«
»Sehr gern.«
»Ich überlasse Ihnen die Wahl.«
Ich war nicht sicher, ob ich diese Art von Verantwortung übernehmen konnte, aber ich wollte gut dastehen, selbstbewusst, unabhängig und in der Lage, eine gute Flasche Wein auszuwählen. Kurzum, ich wollte nicht den gehemmten Schizophrenen spielen. Ich warf einen Blick auf die Karte und wählte selbstsicher einen nicht zu alten Pessac-Léognan.
Agnès gab die Bestellung auf. Der Kellner zog sich diskret zurück, die Karten unter den Arm geklemmt.
»Das Innenministerium zahlt mir nicht genug, um jeden Abend herzukommen, aber immerhin von Zeit zu Zeit. Es ist köstlich.«
»Wenn Sie meinen … Es wirkt sehr nett.«
»Ja, der Inhaber ist ein Menschenfreund.«
Ich wusste nicht genau, warum sie das sagte. Ein Menschenfreund? Ich war mir nicht mal sicher, ob ich wusste, was das bedeuten sollte. Vielleicht wollte sie einfach, dass ich mich wohl fühlte.
Sie bot mir lächelnd eine Zigarette an. Ich ließ mich in Versuchung führen. Wir rauchten nicht dieselbe Marke, aber ich hatte Lust auf etwas Neues.
»Vigo, haben Sie sich trotz des Chaos in meiner Wohnung zurechtgefunden?«
»Ja, ja, keine Sorge. Danke. Wissen Sie, Ihre Gastfreundschaft rührt mich sehr …«
»Ist doch selbstverständlich, es macht mir Spaß. Ein bisschen Gesellschaft tut mir gut.«
»Aber sagen Sie mal, Agnès, sind Sie sicher, dass Ihr Mann nicht irgendwann auftaucht?«
Sie lächelte.
»Hatten Sie den ganzen Tag Angst?«
»Nun ja,
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