Das Kopernikus-Syndrom
Sie das noch nie bemerkt?«
»Nein, noch nie. Sie sind ja ein schöner Optimist.«
Ich zog an meiner Zigarette und ließ mein Feuerzeug schnell in die Tasche gleiten.
»Wissen Sie, dass jeden Tag fast dreihundert Pflanzen- und Tierarten von der Erde verschwinden? Wir müssen uns klarmachen, dass auch wir irgendwann dran sind.«
»Irgendwann ja, vielleicht … Aber nicht unbedingt jetzt. Ein wenig Optimismus könnte Ihnen nicht schaden, verdammt noch mal.«
»Seltsamer Ratschlag von einer Depressiven«, spottete ich.
»Erstens bin ich keine Depressive«, verteidigte sie sich, »ich bin eine ängstliche Person, die ein vorübergehendes Stimmungstief durchmacht. Und auf jeden Fall betreffen meine Probleme nicht mein Vertrauen in die menschliche Rasse im Allgemeinen, sondern nur meinen eigenen Fall. Meine Ängste sind sehr … persönlich. Trotz allem habe ich Hoffnung für die Menschheit. Im Gegensatz zu Ihnen …«
»Moment mal, meine Angst ist nicht so pessimistisch wie sie scheint.«
»Ah ja?«
»Überlegen Sie mal: Finden Sie es bedauerlich, dass der Neandertaler dem Homo sapiens weichen musste? Nein, natürlich nicht. Und hier verhält es sich ähnlich. Ich frage mich, ob unsere Rasse nicht das Ende ihrer Entwicklung erreicht hat, einen Zustand, in dem sie ihrer Umwelt mehr schadet als nützt. Die Natur muss sich verteidigen und folglich die menschliche Rasse daran hindern, sich weiterzuentwickeln. Ich frage mich also schlicht und ergreifend, ob der Homo sapiens am Ende ist.«
»Und diese Einstellung finden Sie nicht pessimistisch?«
»Nicht unbedingt. Wer weiß? Vielleicht gewinnt eine andere Rasse die Oberhand, wie in jeder neuen Phase in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte.«
»Vigo, Sie machen mir Angst. Sie wollen mir doch nicht Nietzsche und alle Erörterungen über den Übermenschen zitieren? Man weiß doch, wohin diese Art von Philosophie führt.«
»Nein, nein«, beruhigte ich sie. »Das ist wirklich nicht mein Ding.«
»Dann passen Sie besser auf, denn Ihre unheilvollen Worte und diese Idee einer neuen Menschenrasse, das ist ziemlich seltsam …«
»Ich habe Sie gewarnt.«
»Ja. Ich glaube, Sie grübeln ein bisschen zu viel, mein lieber Vigo«, sagte sie, wobei ihre Stimme eine gewisse Zärtlichkeit verriet.
»Sie haben bestimmt recht. Ich lese zu viel, das wird's wohl sein ich mache mir zu viele Notizen. Aber seien Sie unbesorgt, das gehört alles in den Bereich der Angst. Manchmal habe ich einfach den Eindruck, dass unsere Art am Aussterben ist und das die Natur etwas anderes hervorbringen wird. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen zu gefährlich für die Erde geworden sind, aber auch füreinander. Dass sie nicht mehr in der Lage sind, sich zu verstehen und folglich sich selbst zu retten.«
»Nun«, sagte sie stirnrunzelnd, »ich glaube, dass der Überlebensinstinkt stärker ist als alles andere und dass der Mensch in der Lage ist, sich Einhalt zu gebieten, bevor es zu spät ist, und sich wie immer anzupassen.«
»Im Grunde genommen sind Sie eine depressive Optimistin.«
»Genau. Sie wissen doch, um von sich aus zu einer Psychologin zu gehen, braucht man trotz allem einen gewissen Glauben an die Möglichkeit einer Besserung. Das ist ein optimistischer Weg!«
»Dann muss ich auch ein bisschen optimistisch sein!«
»Ja. Wir sind uns ähnlicher, als es scheint«, bemerkte sie und drückte kurz meine Hand.
Die Berührung war wunderbar. Diese ungewohnte Wärme hätte ich gern noch länger genossen.
»Auf jeden Fall möchte ich Ihnen danken für alles, was Sie für mich tun, Agnès.«
»Ach, Sie brauchen sich nicht dauernd zu bedanken. Ich schwöre Ihnen, letzten Endes ist es ziemlich egoistisch von mir, es hilft mir, nicht an mich zu denken. Ich bin viel effizienter darin, mich um die Probleme anderer zu kümmern, als meine eigenen zu lösen.«
»Sind Sie deshalb zur Polizei gegangen?«
»Nein«, erwiderte sie lächelnd. »Nein, das hat mit der Familie zu tun. Mein Vater war Polizist, damals in Algerien. Er wünschte sich, dass sein Sohn ihm nacheifern und seine Tochter sich mit einem Hausfrauendasein begnügen würde. Wir haben ihn beide enttäuscht. Als er mich das erste Mal in Uniform sah, war er absolut nicht begeistert. Und wenn ich heute darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass er recht hatte. Es war bestimmt nicht die klügste Entscheidung meines Lebens. Es ist nicht einfach, in Frankreich als Polizistin Fedjer zu heißen. Ich bin die Kanakin vom
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