Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
Vom Netzwerk:
nein, überhaupt nicht, Vigo. Aber ich finde, es wird Zeit, dass wir uns duzen, finden Sie nicht auch?«
    Ich runzelte die Stirn, überlegte, was ich über Sprache dachte, die eine Brücke zwischen den Menschen bildet, aber auch eine diskrete Schranke, die sich zwischen unseren Subjektivitäten erhebt. Eine Maske der Lüge und eine ausgestreckte Hand, die distanziert und annähert.
    Wir sollten uns also duzen. Warum nicht? Das war eine Möglichkeit, ein erstes künstliches Hindernis zu überwinden. In unserer Beziehung ging alles derart schnell, dass wir kaum noch hinterherkamen.
    »Okay, wenn du willst«, erwiderte ich schüchtern.
    Sie lächelte breit.
    »Ja, so ist es viel besser.«
    Ihre Spontaneität gefiel mir. Hinter ihrer strengen Miene und ihrem ein wenig rauen, jungenhaften Verhalten hatte sie sich eine gewisse Kindlichkeit bewahrt. Das berührte mich. Vielleicht weil ich meine eigene vergessen hatte.
    Nachdem wir unsere Vorspeise verzehrt hatten, brachte man uns das Hauptgericht. Sie hatte nicht zu viel versprochen: Das Rumpsteak war köstlich.
    Allmählich entspannten wir uns und lachten immer ungenierter. Die Atmosphäre des Restaurants mit dem Jazz, der gedämpft aus unsichtbaren Boxen erklang, und dem flackernden Licht der Kerzen war beruhigend. Auch der Wein trug seinen Teil dazu bei.
    »Wir könnten uns zu Hause einen Film anschauen, wenn du magst«, schlug sie vor. »Das bringt uns auf andere Gedanken.«
    Ich war nicht davon überzeugt, dass ein Film mich darüber hinwegtrösten konnte, dass ich soeben meinen Namen und meine Eltern verloren hatte, aber ich war bereit, mit dieser Frau jede Art von Vergnügen zu teilen, und sei es auch noch so klein. Noch spielte ich die Rolle des entspannten, lässigen Freundes nicht sehr gut, aber ich wollte mich darin üben. Seit ich Agnès getroffen hatte, sammelte ich viele neue Erfahrungen im Umgang mit Menschen. Die Vorstellung, das Kapitel ›Videoabend‹ abzuhaken, gefiel mir ziemlich gut.
    In dem Augenblick kam ein Mann aus der Küche auf unseren Tisch zu. Er trug das Haar halblang, seine Augen funkelten. Er war um die fünfzig und, seiner Korpulenz nach zu urteilen, ein Genießer. Schnell wurde mir klar, dass er der Restaurantbesitzer war, der berühmte Menschenfreund.
    »Guten Abend, Agnès«, sagte er und küsste sie dreimal auf die Wangen.
    »Guten Abend, Jean-Michel, darf ich dir Vigo vorstellen, einen Freund.«
    Ich drückte seine ausgestreckte Hand.
    »Na, wenn er ein Freund ist, dann lasse ich euch allein. Bis Montag, meine Schöne.«
    Er zwinkerte Agnès zu und ließ uns allein.
    Es war erstaunlich, auf diese Weise das Leben dieser Frau kennenzulernen, nach und nach die Bausteine zu entdecken, die ihren Alltag ausmachten. Ihr Viertel, ihre Freunde, ihre Vergangenheit, ihre Probleme. Ich hatte Lust, alles zu erfahren, und mochte alles von vornherein. Bald wurde mir bewusst, dass ich mich in meinem ganzen Erwachsenenleben noch nie so geöffnet hatte wie dieser Frau gegenüber. Das war es also: sich mit jemandem wohl fühlen. Vielleicht hatte ich als Jugendlicher Freunde gehabt, die mir näherstanden als Agnès, aber ich erinnerte mich nicht. Ich fühlte mich plötzlich wie neugeboren, endlich wieder lebendig. Ich war wie ein Kind, das einen neuen Geschmack entdeckt, ihn zum ersten Mal kostet. Ich vergaß den Rest. Wir waren allein auf der Welt, die ein einziges Schauspiel darstellte, das wir amüsiert und überrascht kommentierten. Das Restaurant war leer, als wir merkten, dass es Zeit wurde aufzubrechen. Unsere Kerzen waren seit langem erloschen, doch die Zeit war wie im Flug vergangen.
    Zu Hause nahm ich zu meiner eigenen Überraschung ihre Hand. Sie ließ es geschehen. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass sie zu viel getrunken hatte, aber ich fand es wundervoll.
48.
    Moleskin-Notizbuch, Anmerkung Nr. 163:
die Menschenfreunde
    Als Agnès mir sagte, der Restaurantbesitzer sei ein Menschenfreund, habe ich mir geschworen herauszufinden, was das heißt, ein Menschenfreund. Ich frage mich, wie ein echter Menschenfreund aussieht. Wie man ihn erkennt. Und wozu er gut sein soll.
    Menschenfreund: Philanthrop: (1370, aus dem Gr . Philanthropôs, von philos ›Freund‹, ›Mensch«‹). 1. Jemand, der dazu neigt, alle Menschen zu lieben. 2. Jemand, der sich bemüht, das materielle und moralische Los der Menschen zu verbessern, s. Humanist.
    Verdammt! Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergeht, aber mir bereitet das Schwindel. Man muss schon sagen, dass es eine

Weitere Kostenlose Bücher