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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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geben und zu empfangen.
    Agnès kehrte mit zwei Gläsern zurück. Sie stellte sie auf den Tisch, und mit einer einzigen Bewegung zerstreute sie all meine Bedenken. Ich sah, wie sie ihr Knie auf das Sofa stützte, ganz dicht neben meinen zusammengepressten Beinen, eine Hand auf meine Schulter legte, sich zu mir beugte, und mit einer Zärtlichkeit, die ich noch nie erlebt hatte, gab sie mir einen sanften Kuss.
    Ich ließ sie gewähren, blieb wie erstarrt sitzen, doch dann öffneten sich meine Lippen zum Kuss. Behutsam drückte sie mich gegen die Lehne des Sofas und setzte sich auf meine Knie. In dieser Haltung war sie größer als ich, und ich bekam den Eindruck, wehrlos zu sein. Sie bedeckte mich mit Küssen und knöpfte dabei mein Hemd auf, streichelte meine Brust, meine Hüften. Ab und zu streiften ihre Haare mein Gesicht, ich spürte ihren Atem an meinem Hals. Meine Hände zitterten, ob aus Angst oder Erregung, wusste ich nicht. Mein Geist war erfüllt von tausend Ängsten, von tausend widersprüchlichen Gefühlen, die ich aufgrund der Dringlichkeit des Augenblicks nicht begriff. Bald lag ich ausgestreckt auf dem Rücken, halbnackt, und Agnès schwebte wie ein Engel über mir und entledigte sich ihrer letzten Kleidungsstücke.
    Ohne dass ich es hätte beeinflussen können, verkrampfte sich mein ganzer Körper. Ich konnte mich nicht entspannen, ich konnte dieses Bewusstsein nicht loslassen, das ich ausschalten musste, um mich einfach meinem Verlangen hinzugeben. Agnès Hände suchten vergeblich nach Zeichen meiner Begierde. Meine Seele gehörte ihr voll und ganz, aber mein Körper verweigerte sich ihr – und mir.
    Unsere Köpfe lagen dicht beieinander, und ich vernahm Agnès' unmerklichen Seufzer an meiner Schläfe.
    »Tut mir leid«, murmelte ich, »ich kann nicht.«
    Sie richtete sich auf und nahm meinen Kopf in beide Hände.
    »Red keinen Unsinn. Mir tut es leid. Ich … ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist.«
    »Du kannst nichts dafür, Agnès. Es ist bestimmt wegen meiner Krankheit … die verdammten Neuroleptika.«
    Sie legte einen Finger auf meine Lippen und hinderte mich am Weiterreden.
    »Sprechen wir nicht mehr darüber«, sagte sie. »Ich habe zu viel getrunken und mache Unsinn.«
    Sie schmiegte sich noch einen Augenblick an mich, den Kopf an meiner Brust. Es war zärtlich und dermaßen beruhigend. Ich glaube, ich hätte in ihren Armen einschlafen können, aber Agnès richtete sich auf. Schnell schlüpfte sie in ihre Bluse und setzte sich neben mich. Dann streichelte sie behutsam meine Schulter. »Du hast ein seltsames Tattoo«, sagte sie und studierte es. »Was ist es? Ein Wolf?«
    Ich blickte ebenfalls auf die kleine blaue Zeichnung auf meinem Oberarm. »Ja, ich glaube.«
    »Du glaubst?«
    »Ich erinnere mich nicht. Das muss vor meiner Amnesie gewesen sein. Ja, aber es könnte ein Wolf sein.«
    Sie griff nach einem der beiden Martinigläser auf dem Tisch und hob es etwas verlegen an die Lippen.
    »Ich glaube, für heute Abend habe ich genug getrunken. Tut mir leid, Vigo, ich geh jetzt schlafen.«
    Sie erhob sich und zog sich in ihr Zimmer zurück ohne einen weiteren Blick zu mir. Ein kurzer Klick, und Mia Farrow verschwand vom Fernsehschirm. Ich löschte das Licht, legte mich hin und wartete auf den Schlaf. Aber er spielte den Unerreichbaren.
50.
    Am nächsten Morgen hörte ich, wie Agnès gegen 8 Uhr aus dem Bad kam und in die Küche ging. Sie huschte am Wohnzimmer vorbei, schön wie eine Elfe, doch sie beachtete mich nicht. Sicher nahm sie an, dass ich schlief. Oder sie hatte Angst davor, mit mir zu reden.
    Ich hörte sie Kaffee machen. Vielleicht hätte ich in diesem Moment aufstehen und zu ihr in die Küche gehen sollen. Aber ich hatte nicht den Mumm dazu. Ich hätte ihr nichts Nettes sagen können. Ein paar Minuten später verließ sie geräuschlos die Wohnung, ich sah ihre zarte Gestalt in der Eingangstür verschwinden.
    Ich blieb noch eine Weile auf der Schlafcouch ausgestreckt. Ich konnte die Szene vom Vortag nicht vergessen. Ihre Hingabe, mein Versagen. Ich fragte mich, wie wir mit dieser Situation umgehen würden. Ich war mir meiner Gefühle nicht sicher und ihrer noch weniger. Hatte sie lediglich unter dem Einfluss des Alkohols gehandelt, oder empfand sie etwas für mich? Und ich? War ich fähig, ein Abenteuer mit einer Frau zu erleben? All das war viel zu kompliziert für Vigo Ravel, den unsicheren Schizophrenen. Zu kompliziert und erschreckend. Ich zweifelte so stark an

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