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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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gewesen. Ich hatte diese Frau in den Armen gehalten, sie hatte mich geküsst, sie hatte sich vor mir entkleidet, und ich war außerstande, die Situation zu meistern. Im Augenblick befanden wir uns in einer Art Beziehungsniemandsland und wussten beide nicht, wie wir uns verhalten sollten.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich sie, die Hände immer noch in den Taschen vergraben.
    »Scheißtag.«
    »Hattest du Ärger im Kommissariat?«
    »Das Übliche. Willst du auch einen Tee?«
    Ich nickte. Sie sah nicht aus, als wollte sie die Unterhaltung fortsetzen.
    »Ich hatte heute Abend meinen Termin bei der Zenati. Ich bin immer ein bisschen durcheinander, wenn ich bei ihr war, das ist alles. Gehst du nicht mehr zu ihr?«
    Ich zuckte die Schultern.
    »Wozu denn? Ich bin nicht schizophren.«
    Das war nicht unbedingt eine überzeugende Antwort, aber nach allem, was geschehen war, schien mir eine Sitzung bei der Psychologin eher lächerlich.
    »Bist du mit deinen Nachforschungen vorangekommen?«, erkundigte sich Agnès, die offensichtlich das Thema wechseln wollte.
    »Nicht wirklich.«
    »Hast du nichts über deinen Doktor gefunden?«, hakte sie nach und füllte zwei Tassen.
    Ich hatte fast vergessen, dass wir uns duzten. Das kostete mich weitere Mühe. Ich fühlte mich immer noch nicht wohl, und es fiel mir schwer, mich normal zu benehmen. Auch wenn wir hier in der Küche saßen und gestern einen intimen Abend miteinander verbracht hatten, fühlte ich mich wie ein Fremder. Ein Eindringling. Vielleicht noch deutlicher als zuvor.
    »Nein, auch nichts über die Praxis Mater. Und die Firma Feuerberg, bei der ich gearbeitet habe, ist schlichtweg verschwunden. Ich bin hingefahren und habe gesehen, dass Männer dabei waren, das Büro zu räumen.«
    Sie runzelte die Stirn.
    »Das Büro zu räumen?«
    »Ja, die Möbel, alles. Und zwei Männer standen vor dem Eingang Wache.«
    »Das ist verrückt. Das kann kein Zufall sein.«
    Sie stellte die beiden Tassen auf den kleinen Küchentisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ich nahm ihr gegenüber Platz.
    Nach einem langen, belastenden Schweigen fühlte ich mich dermaßen unbehaglich, dass ich nicht länger warten konnte.
    »Agnès, ich habe den Eindruck … dass ich dich störe.«
    »Aber nein, überhaupt nicht.«
    »Ist es wegen gestern Abend?«
    »Nein, ich bin kaputt, das ist alles.«
    »Bist du sicher? Und wegen gestern Abend …«
    »Ich hatte zu viel getrunken, tut mir leid. Bilde dir nichts Falsches ein.«
    Nichts Falsches einbilden? Ich war mir nicht sicher, ob ich begriff, was sie sagen wollte. Oder vielmehr hatte ich Angst, sie zu verstehen.
    »Ich gestehe dir, ich weiß nicht genau, wo ich stehe«, sagte ich zu ihr. »Wo wir stehen …«
    Sie seufzte, beugte sich über den Tisch und nahm meine Hand in ihre.
    »Hör zu, Vigo, ich schätze dich sehr und freue mich, dich hier zu haben, aber was ich gestern Abend getan habe, war wirklich Blödsinn. Bitte, verzeih mir, ich hätte das nicht tun dürfen. Ich habe gerade eine lange, schmerzhafte Beziehung hinter mir, ich bin ein bisschen orientierungslos und mache einfach Unsinn. Ich will dir unbedingt helfen. Wie eine Freundin, in Ordnung?«
    Ich nickte. Es war zwar nicht das, was ich erhofft hatte, aber zumindest war die Botschaft deutlich. Und vielleicht war es besser so. Zumindest wollte ich mir das einreden. Wie eine Freundin.
    Agnès ließ meine Hand los und widmete sich wieder ihrem Tee. Ich tat es ihr nach. Die Atmosphäre entspannte sich ein wenig. »Mir ist etwas Seltsames passiert«, berichtete ich und lehnte den Kopf an die Wand.
    »Was?«
    »In der Metro habe ich Stimmen gehört …«
    Sie zog sich leicht zurück.
    »Und dann? Das wird langsam zur Gewohnheit, wenn ich das sagen darf, nicht wahr?«
    »Ja, natürlich … Doch ich weiß nicht, ob ich mich jemals wirklich daran gewöhnen werde. Aber weißt du, das Eigenartige daran ist, dass diese Stimmen nicht irgendetwas sagten. Es sind Stimmen, die ich bereits gehört hatte.«
    »Wie das?«
    »Nun, in der Vergangenheit habe ich immer darauf geachtet, nicht mit der Metro zu fahren und mich nicht in der Nähe von Gullys aufzuhalten, weil ich dort mehrere Male seltsames Flüstern gehört habe, das mich erschreckte. Damals redete ich mir ein, dass es Halluzinationen seien, sicher erzeugt von meiner Angst vor der Dunkelheit, meiner Angst vor der Leere oder so etwas. In meiner Schizophrenensprache nannte ich sie das Murmeln der Schatten. Aber als ich sie vorhin hörte, war es

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