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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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vor dem Bahnsteig wurde ich plötzlich von einem neuerlichen Anfall gepackt. Der Kopfschmerz, das Gleichgewicht, die Sehstörungen … Das übliche Schema. Dann dieses Flüstern, das in meinem Kopf brummt.
    Ich fror. Kein Zweifel. Ich hätte diese Stimmen unter Tausenden erkannt. Die Stimmen, die ich unzählige Male gehört hatte und die aus dem Untergrund von Paris aufzusteigen schienen. Das Murmeln der Schatten, wie ich es häufig genannt hatte. Aber jetzt wusste ich zum ersten Mal mit Sicherheit, dass es keine Auswüchse meiner Phantasie waren, keine simplen auditiven Halluzinationen, sondern sehr reale Stimmen.
    Ich blieb stehen, blickte mich um. Keine Tür, kein Ausgang jenseits des Bahnsteigs oder wenige Meter davon entfernt. Ich ging weiter und sah mich erneut um. Niemand wartete auf dem Bahnsteig. Ich war allein. Ganz allein. Und doch hörte ich diese Stimmen, dieses Murmeln. Sicher, es waren ferne Gedanken, aber auf jeden Fall Gedanken. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, versuchte, mich zu konzentrieren, um sie besser zu verstehen. Aber ich schnappte nur wirre Worte auf, undeutlich. Ich schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Ich wollte nur noch diese Stimmen hören. Ich wollte ein für alle Mal ihr Geheimnis ergründen.
    Langsam wurde das Murmeln der Schatten immer deutlicher, der Widerhall weniger verworren. Die Worte wurden nach und nach klarer. Schließlich konnte ich einige Silben verstehen, dann sogar einige Worte. Keinen ganzen Satz, nein, aber zumindest einige Worte. Ein paar kurze Worte. Und nicht einfach irgendwelche.
51.
    Moleskin-Notizbuch,
Anmerkung Nr. 167: Illusion
    Das menschliche Auge ist nicht das Instrument, das die Bilder deutet, die man empfängt. Es ist nur eine Gesamtheit lichtempfindlicher Kollektoren. Das Instrument, das die Bilder deutet, ist das Gehirn. Ja, wieder mal das Gehirn.
    Es gibt ein Phänomen, das man seit langem kennt und das mich trotzdem unaufhörlich beunruhigt. Die Wissenschaftler haben spleenige Ideen. Doch man kann es ihnen nicht übelnehmen: Es ist ihr Beruf. Sie haben Spezialbrillen anfertigen lassen, mit denen die Bilder verdreht wurden. In den ersten Tagen sahen diese Menschen die Welt verkehrt herum, was bestimmt nicht sehr angenehm war. Aber nach ungefähr acht Tagen korrigierte ihr Gehirn die Information, und sie sahen die Welt wieder richtig, als ob sie diese Brillen nicht mehr tragen würden. Nahm man den Personen die Brillen wirklich ab, benötigten sie acht Tage, bis ihr Gehirn sich daran gewöhnte, dass sie wieder normal sehen konnten.
    Ich finde darin den wenn auch nicht schlagenden, so doch zumindest wahrscheinlichen Beweis dafür, dass unsere Sicht der Welt lediglich eine riesige Illusion ist, die uns von unseren kranken Gehirnen vorgegaukelt wird. Im Grunde genommen hat das Reale vielleicht nicht viel mit dem Bild zu tun, das man sich davon macht. Manchmal beruhigt mich das seltsamerweise.
52.
    Agnès kam kurz nach 18 Uhr nach Hause. Ich erhob mich und lächelte sie an. Sie hängte ihre Jacke in der Diele auf und blieb vor der Tür zum Wohnzimmer stehen.
    »Guten Tag, Vigo.«
    »Guten Tag.«
    Ich vergrub meine Hände in den Taschen, ich fühlte mich unbehaglich. An ihrem Blick erkannte ich, dass es ihr genauso ging. Es war schwierig, das Fiasko vom Vorabend zu vergessen. Wir hielten Abstand, wichen dem Blick des anderen aus. Es wäre zu kühl gewesen, wenn wir uns die Hand gegeben hätten, aber zu vertraut, wenn wir uns geküsst hätten. Ich wusste nicht genau, wo wir eigentlich standen. Alles hing in der Schwebe, war ungelöst. Seit dem, was gestern auf dem Sofa passiert oder vielmehr nicht passiert war, hatten wir kein Wort gewechselt. Den ganzen Tag über hatte ich gegrübelt, wie es sein würde, wenn wir uns abends trafen, wie wir unsere Beziehung wiederaufnehmen konnten. Einen Augenblick lang hatte ich gehofft, dass sie mich vielleicht mit einer unerwarteten Ungeniertheit überraschen würde und dass alles in Ordnung wäre. Aber die Dinge sind nie so einfach. Und offensichtlich verspürte Agnès nicht die geringste Lust, dort weiterzumachen, wo wir gestern aufgehört hatten.
    »Ich mache mir einen Tee«, verkündete sie und ging in die Küche.
    Ich zögerte kurz, dann folgte ich ihr. Doch dann blieb ich, genau wie sie zuvor, in der Tür stehen. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und sah zu, wie sie den Wasserkessel aufsetzte. Sie wirkte besorgt, angespannt. Aber sie war immer noch so schön. Was für ein Dummkopf war ich

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