Das Kopernikus-Syndrom
aber sie sah schnell, dass wir immer noch keine Nachricht erhalten hatten. Sie zuckte resigniert die Schultern.
»Heute Abend wissen wir auch noch nicht mehr«, sagte sie. »Ich muss jetzt aber gehen. Ich bitte dich nicht mitzukommen, weil es ein Dienstessen ist, nur Polizisten.«
»Kein Problem.«
»Versuch dich zu entspannen, an etwas anderes zu denken. Wir machen morgen weiter.«
Ich nickte. Aber kaum war sie gegangen, setzte ich die Recherchen im Internet fort. Ich verbrachte Stunden damit, Links anzuklicken, den Namen des festgenommenen Verdächtigen, das Protokoll 88, die Praxis Mater einzugeben … Aber ich wurde nicht fündig.
Gegen ein Uhr morgens war Agnès immer noch nicht zurück. Müde ging ich ins Wohnzimmer und legte mich auf die Couch.
56.
Am nächsten Morgen wachte ich ruckartig auf, geblendet vom Licht.
Agnès hatte den Vorhang aufgerissen. Sie stand mit einem Kaffee in der Hand vor mir. Erstaunt warf ich einen Blick auf die kleine Uhr am Videorecorder. Dieses Mal zeigte sie eine richtige Zeit an: 10 Uhr.
»Vigo, ich habe die Adresse und die Telefonnummer von Gérard Reynalds Anwalt gefunden.«
Sie setzte sich auf den Rand meiner Schlafcouch und reichte mir den Kaffee. Ich richtete mich mühsam auf.
»Sollen wir versuchen, ihn zu treffen?«, schlug sie vor.
Ich runzelte die Stirn.
»Hm, an einem Sonntagmorgen?«
»Na und? Willst du lieber warten? Ich erinnere dich daran, dass deine Frist bald abläuft. Egal, was passiert, morgen werde ich den Staatsanwalt anrufen.«
Ich brummte.
»Du bist schon so früh auf. Wann bist du denn heimgekommen?«
»Gegen zwei. Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Also bin ich wieder früh aufgestanden. Ich rackere mich für dich ab, mein Freund.«
Ich grinste. Auch wenn sie die Lässige spielte, fesselte sie unsere Untersuchung mindestens genauso wie mich. Ich hätte geschworen, dass sie es ebenfalls bedauerte, morgen das Ganze der Justiz zu übergeben.
»Gut«, sagte ich, »lass mich zumindest mal aufstehen.«
Ich trank den Kaffee und zog mich im Bad an. Als ich aus dem Bad kam, reichte mir Agnès den Telefonhörer.
»Ruf den Anwalt an. Sag ihm, du möchtest ihn persönlich sprechen.«
»Aber … Wie soll ich mich verhalten?«
»Ich weiß nicht. Sag ihm, du hast wichtige Informationen für ihn.«
Ich schüttelte den Kopf. Agnès konnte so etwas sicher viel besser als ich. Sie war überzeugender. Aber ich musste die Verantwortung dafür selbst in die Hand nehmen. Ich griff nach dem Hörer und wählte die Nummer des Anwalts. Offensichtlich war niemand im Büro. Aber der Anrufbeantworter nannte seine Handynummer, für Notfälle.
Ein paar Augenblicke später hatte ich den Anwalt in der Leitung. Monsieur Blenod schien alles andere als erfreut über die Störung am Sonntagmorgen. Ich konnte es ihm nicht mal übelnehmen. Aber es war keine Zeit für Höflichkeiten.
»Monsieur, ich muss unbedingt mit Ihrem Mandanten Gérard Reynald sprechen. Ich habe Informationen für ihn, die für seine Verteidigung wichtig sein könnten, und ich muss mich dringend mit ihm über das Attentat im SEAM-Turm unterhalten.«
»Sie scherzen wohl? Soll das ein Witz sein?«
»Nein, ich muss unbedingt Ihren Mandanten sprechen.«
»Aber Monsieur, er befindet sich in Polizeigewahrsam.«
»Ich habe lebenswichtige Neuigkeiten für ihn.«
»Hören Sie, ich weiß nicht einmal, wer Sie sind.«
Ich zögerte. Ich konnte es nicht riskieren, meinen Namen einfach preiszugeben.
»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen am Telefon nichts sagen. Sie müssen mir vertrauen. Ich habe wirklich wichtige Neuigkeiten. Ich muss unbedingt Ihren Mandanten sprechen.«
»Ich wiederhole, das ist unmöglich. Mein Mandant befindet sich in Polizeigewahrsam, und Sie können ihn nicht aufsuchen. Basta.«
»Ich sage Ihnen, ich weiß Dinge … wichtige Dinge … die ihm in seinem Prozess helfen könnten …«
»Das ist ja möglich, aber da ist nichts zu machen, Monsieur. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich habe Wichtiges …«
»Hat er Ihnen von der Praxis Mater erzählt?«, fiel ich ihm ins Wort.
Der Anwalt schwieg.
»Er hat Ihnen davon erzählt, nicht wahr?«
Er schwieg. Kein Zweifel: Der Name der Praxis war ihm bekannt.
»Tut mir leid, aber alles, was mein Mandant mir im Rahmen seiner Untersuchungshaft berichtet, ist streng vertraulich. Außerdem weiß ich nicht, wer Sie sind und inwiefern Sie in diese Angelegenheit verwickelt sind …«
»Im Augenblick des Attentats war ich
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