Das Kopernikus-Syndrom
Gespenster.
Draußen, heute bin ich mir dessen ganz sicher, erstrecken sich die grünen Hügel der Küste der Normandie. Hinter den Grashügeln liegen alte Bunker, unsterbliche Monster aus Beton, als ob die Erde die Wunden des Krieges nie vergessen würde. In der Ferne ragen Kalkfelsen über ein aufgewühltes Meer.
Ich betrachte die dumme Fliege. Sie setzt sich, fliegt weg und kehrt langsam zurück. Ich weiß, dass ich sie nicht verjagen kann. Sie ist da, um meinen Blick abzulenken, um mich aus den Geheimnissen der Erwachsenen herauszuhalten.
Vor mir entbrennt die Diskussion. Ich bin missmutig, müde. Ich habe tausendmal diese Vorwürfe gehört, diese Disharmonie, tausendmal habe ich dieses Wortgefecht erlebt.
Es muss mein Fehler sein, weil ich da bin.
Dann hält der Wagen. Ich sehe meine Hände, die sich an die Kopfstütze klammern. Ich höre das Geräusch des Sands unter den Reifen, das Meer, die Türen, die zugeschlagen werden. Bam, bam, bam, wie drei Ohrfeigen auf den roten Wangen meiner Erinnerung.
Ich laufe über den verlassenen Strand, fern von den Erwachsenen, die mich nicht hören. Wir gehen auf Kieselsteinen. Das Geräusch der Wellen und der Wind ersticken die Landschaft.
Vor uns sehe ich das lange Büschel grüner Algen. Und dann verschwindet die Erinnerung wieder langsam im Flügelschlag einer Möwe.
55.
Als ich am nächsten Morgen aus dem Bad kam, fand ich Agnès in ihrem Arbeitszimmer. Ohne auf mich zu warten, hatte sie mit den Internetrecherchen angefangen. Unwillkürlich war ich gerührt, als ich sie von der Tür aus betrachtete: ihren zarten Hals, ihre Hände, die über die Tasten huschten. Es fiel mir schwer, die Küsse zu vergessen, die sie mir geschenkt hatte, die Minuten einer Intimität, die für immer verflogen schien – und die ich gern erneut genossen hätte.
»Vigo, du schnarchst.«
»Wie bitte?«
Sie hatte sich nicht umgedreht.
»Du schnarchst wie ein Bär. Ich höre dich bis in mein Zimmer.«
»Das tut mir leid.«
Sie drehte ihren Sessel, um mir endlich ins Gesicht zu sehen. Ein spöttisches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Ich habe noch nie jemanden so schnarchen gehört. Das ist ätzend.«
»Äh, tut mir wirklich leid.«
Sie schien meine Verlegenheit zu genießen.
»Komm her, ich glaube, ich habe etwas Interessantes über deinen anonymen Brief gefunden.«
Ich näherte mich dem Rechner.
»Schau. Ich glaube, ich habe den Kerl identifiziert, der dir diese Nachricht im Hotel hinterlassen hat.«
»Tatsächlich?«
Sie deutete auf den Bildschirm. Sie hatte im Internet ein Forum geöffnet.
»Das ist der Name eines Hackers, eines Netzpiraten, und zwar keines x-beliebigen.«
In der langen Mail-Liste sah ich mehrere Male den Absender: SpHiNx.
»Ach ja. Und warum sagst du, er sei nicht irgendwer?«
»Als ich neulich den Brief las, kam mir der Name irgendwie bekannt vor. Also habe ich ihn überprüft. Ich hatte ihn bestimmt schon mal im Internet gesehen. Es ist der geheimnisvolle Kerl, der Enthüllungen über den Stein von Iorden gemacht hatte.«
»Ach ja, ich erinnere mich. Die berühmte verborgene Botschaft Christi.«
»Genau. Seine Enthüllungen haben seinerzeit einen Skandal verursacht und es ermöglicht, die Acta Fidei zu entlarven, diese mafiöse Organisation, die sich in den Vatikan eingeschlichen hatte.«
»Und was hat das mit uns zu tun?«
Sie zuckte die Schultern.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber zumindest weiß man, dass er ziemlich seriös ist. Ich habe mir erlaubt, diesem geheimnisvollen SpHiNx eine Mail zu schicken. Ich hoffe, das macht dir nichts aus. Wir werden ja sehen, ob er uns antwortet. Ich habe uns auf dem Forum angemeldet, so dass wir Mails empfangen und versenden können.«
»Das hast du gut gemacht. Aber bist du sicher, dass es sich um dieselbe Person handelt, die meinen Brief geschrieben hat?«
»Ziemlich sicher. Wir erkennen es ja dann an seiner Antwort. Aber schau, es ist genau die gleiche Typographie, bei der jeder zweite Buchstabe großgeschrieben wird.«
»Ja, aber das ist unglaublich. Ich frage mich, weshalb mir ein berühmter Hacker diesen Brief im Hotel hinterlassen hat.«
»Nun, wenn ich seine Meldungen lese, habe ich den Eindruck, dass der Kerl seine Zeit damit verbringt, Skandale in der Politik, in der Finanzwelt und sonst wo aufzudecken.«
»Interessant.«
»Ja. Ich habe noch nicht alles angeschaut, aber er wirkt ziemlich vertrauenswürdig. Doch Misstrauen ist immer gut, denn es gibt viele Spinner,
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