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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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schnappen.«
    Genau in diesem Moment fiel mir etwas Anormales auf. Es hätte mir leicht entgehen können, aber zufällig entdeckte ich es aus dem Augenwinkel. Wie ein subliminales Bild, ein Schnappschuss.
    Wir fuhren wieder am Justizpalast vorbei, und statt anzuhalten, bog der Anwalt in eine Straße zur Linken ein. Ich dachte anfangs, er suche einen Parkplatz, aber ich begriff schlagartig, dass es um etwas anderes ging. Der Anwalt wirkte immer aufgeregter, während ich im Schatten eines großen Vordachs die Umrisse zweier Männer erkannte.
    Mit einem kurzen Blick durch die Scheibe wusste ich, wer sie waren: meine beiden Verfolger aus La Défense in ihren grauen Trainingsanzügen.
    Ich beobachtete den Anwalt und erkannte an seinem Blick, der meinen mied, dass er mich verraten hatte. Er wollte mich dem Feind ausliefern.
    Ich nahm mir keine Zeit nachzudenken, sondern ließ mich von meinem Instinkt leiten, ich beobachtete meine eigenen Reflexe. Mit einer plötzlichen Bewegung griff ich ins Lenkrad und riss den Wagen nach rechts. Der Mercedes drehte sich mit knirschenden Reifen und rammte einen Van, der neben dem Trottoir parkte. Der Aufprall war ungewöhnlich heftig. Es krachte laut, als das Blech eingedrückt wurde und die Scheiben zersplitterten. Wir wurden nach vorn geschleudert und von den weißen Airbags aufgefangen.
    Nicht eine Sekunde verlor ich die Kontrolle über meine Handlungen, ich war mir der Situation voll bewusst. Ich hatte das Gefühl, als beherrsche eine Art überklares Bewusstsein meine Bewegungen. Mit sicheren, präzisen Bewegungen löste ich meinen Sicherheitsgurt, öffnete die Wagentür so weit wie möglich und befreite mich von dem Airbag. Ich glitt durch die schmale Öffnung, griff nach meinem Rucksack und nach der Akte des Anwalts auf dem Rücksitz. Behände schlängelte ich mich zwischen dem Van und dem ramponierten Auto durch. Auf der Straße fing ich sofort an zu rennen. Ich ließ den reglosen Körper des Anwalts zurück, der mich völlig verblüfft angestarrt hatte. Ich rannte in die Gegenrichtung und blickte mich nicht um. Ich wusste hundertprozentig, dass sie mir auf den Fersen waren, denn ich hörte aus der Ferne das Klappern ihrer Absätze auf der Straße. Doch dieses Mal hatte ich einen Vorsprung, und sicherlich war die Überraschung ein Trumpf für mich. Ich rannte so schnell wie möglich, die Akte des Anwalts fest umklammert. Mehrmals wechselte ich die Richtung, nahm unsinnige Risiken auf mich, wenn ich über stark befahrene Straßen rannte. Mehrere Male wäre ich beinahe angefahren worden, doch jedes Mal rannte ich noch schneller, angetrieben von einer unsichtbaren Kraft, die sich aus Wut und Enttäuschung nährte. Bald gelangte ich ans Ufer der Seine, lief an den verblüfften Touristen vorbei. Dann sprang ich, wie ich es in La Défense getan hatte, in einen Bus, kurz bevor sich die Türen schlossen.
    Der Fahrer warf mir einen gleichgültigen Blick zu, dann fuhr er los und fädelte sich in den Verkehr ein. Ich schaute auf die Straße. Dieses Mal wusste ich genau, dass die beiden Männer nicht mitbekommen hatten, dass ich in den Bus gestiegen war. Ich entdeckte sie auf der anderen Seite der Kreuzung, orientierungslos. Sie blickten sich suchend nach allen Seiten um. Unter dem fassungslosen Blick einer älteren Frau im Fond des Busses hob ich den Mittelfinger der rechten Hand und deutete in ihre Richtung.
    Ich beruhigte mich und verstaute die Akte des Anwalts in meinem Rucksack. Dann setzte ich mich auf einen einzelnen Platz und entspannte mich mit einem langen Seufzer. Es dauerte ein paar Minuten, bis mein Herz wieder normal schlug. Dann wurde mir bewusst, dass ich Agnès vergessen hatte.
    Ich richtete mich auf, griff in meine Tasche, um mein Handy herauszuholen. Ich zögerte lange, es einzuschalten. Der Hacker hatte mir in seiner Botschaft dringend empfohlen, es auszuschalten und nicht mehr zu benutzen. Aber ich musste unbedingt Agnès informieren. Ich hatte keine andere Möglichkeit und schaltete es ein. Sofort entdeckte ich im Display, dass ich eine Nachricht hatte, und schaltete meine Mailbox ein.
    »Vigo, ich bin's. Wo bist du? Ich fange an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Gut, ich hoffe, dass dir nichts zugestoßen ist … Tut mir leid, aber ich kann nicht länger auf dich warten … Sie haben meine Wohnung durchwühlt, meine Kollegen warten auf mich, ich muss gehen. Bitte, melde dich ganz schnell.«
    Ich tippte sofort ihre Nummer ein, doch sie hatte die Mailbox eingeschaltet.

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